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„Zur Rechten sehen sie den Papstpalast. Hier residierten zwischen 1335 und 1430 verschiedene Päpste und Gegenpäpste.“ Wie viele tausende Male im Jahr werden derartige Worte rund um den Globus vor den unterschiedlichsten Gebäuden ausgesprochen? Das lässt sich weder zählen noch begreifen. Ist aber auch nicht die Frage. Denn wenn ich im Sommer in der Nähe von Avignon meinen Urlaub in der Provence verbringe, sehe ich die anderen Touristen üblicherweise nicht. In diesem Jahr jedoch hat mich K. in meinem Ferienhaus besucht, und wir sind gemeinsam in die Stadt gefahren. Ich habe keine Ahnung, wie oft ich in meinem Leben bereits hierher gekommen bin. Eigentlich fahren wir seit den späten 1980er-Jahren nach Südfrankreich. Es gab ein paar Unterbrechungen, aber die Liebe zu dieser abwechslungsreichen Gegend führte mich und Freunde stets zurück.

Sascha Büttner

Jetzt stehe ich mit K. in der Gruppe anderer Touristen, und der Reiseführer spricht sein charmantes Deutsch mit dem typisch französischen Einschlag. Eine Treppe führt links auf und rechts absteigend: verwirrend, denn gerade ist keiner auf ihr unterwegs, und so entsteht der Eindruck, als wäre es ein optisches Rätsel, ein Verwirrspiel von Linien, wie bei einer optischen Täuschung. „Architektur spricht“, sagt K. zu mir. Sie kennt sich wirklich aus. Hat mal Kunstgeschichte studiert. Das interessierte mich: „Es wundert mich nicht, dass Architektur wie eine Sprache funktioniert. Warum sehen wir das heute so nicht mehr?“ K. war weniger verwundert. „Es ist kein bewusster Mangel an Aufmerksamkeit. Um Architektur zu verstehen, muss man sich damit beschäftigen. Das kostet Zeit.“ Und dann ging’s so richtig los: Es sei nicht nur der Bauschmuck, der Angaben mache, auf was sich das Gebäude beziehe. Es sei ratsam, seine Sensorik zu schärfen. Sprich: Was empfinde ich, wenn ich jetzt die Tore des Papstpalasts hinter mir lasse, hindurch schreite. Oder wenn ich auf die Anlage schaue: Was ist das Besondere dieses doch eigentlichen Sakralbaus? Und ich dachte sehr schnell an eine Burg.

Architektur als Ausdruck machtpolitischer Vorstellungen

Und dann war ich an einem Ort, an den ich gar nicht gedacht hatte: mitten in der Politik. K. meinte, das sei vollkommen normal, wenn man nicht auf so etwas achte. Schließlich gebe es auch kaum Touristenführer, die einen ermutigten, Architektur als Stein gewordenen Ausdruck machtpolitischer Vorstellungen zu interpretieren. Dabei sei dies doch so naheliegend. Es spiele keine Rolle, ob Kirche oder Klerus oder Bundesregierung als Auftraggeber aufträten: In allen Projekten spiegelten sich die je speziellen Interessen ihrer Auftraggeber. Mehr noch: „Manche Architektur ist so perfekt, man könnte auch sagen perfide, dass sie die Lenkung des Hirns als ästhetisches wie architektonisches Prinzip überspitzt.“

Fotografie von Jean-Marc Rosier, CC BY-SA 3.0