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Es gibt Situationen, in denen sich viele Leute unbehaglich fühlen. K. sagte, vor ein paar Wochen habe sie wieder einmal die Lust verspürt, an einem freien Tag baden zu gehen. Sie wohnt in einer Region, in der es eine ganze Reihe stillgelegter Kiesgruben gibt. Nach Jahren der Renaturierung sind einige von ihnen die reinsten Idyllen: umwachsen von großartigen Laubbäumen winden sich die seichten Ufer teils schön sandig um die Gewässer. Dort spielen sich stilllebenartige Szenen ab. Es hat den Anschein, als wäre dort jeden Tag Wochenende, wenn im Sommer die Sonne scheint. Familien baden, grillen oder sitzen im Freisitz der Bude, wo entspannte Wirte Pommes Frites, Bratwurst und Eis feilbieten. Es wird geredet und geplanscht, und man trifft bisweilen auch Bekannte. Mit ihren Beschreibungen machte K. mich damit ganz neidisch, denn bei uns gibt es das nicht. Immer ist man auf die öffentlichen Freibäder angewiesen. Sie fuhr mit dem Motorrad zur Erfrischung dorthin und legte sich für eine Weile auf ihre Decke, genoss das Ambiente, schwamm zur Badeinsel, und als es ihr genug war, ging’s an Land. Sie zog sich um und war schlagartig aus der Stimmung. Denn neben ihr lag die Familie eines Angestellten aus der Firma. Beide zogen sich gerade um und entdeckten sich gleichzeitig quasi entblößt. Die Begrüßung fiel demgemäß verhalten aus.

Stillstand ist der Bewegung ihr Tod

„Der W. ist ein angenehmer Zeitgenosse“, schilderte K. „Das war wirklich eine Glücksentscheidung, dass ich ihn eingestellt habe. Heute ist er einer unserer besten Key Account Manager.“ Aber man kennt sich eben nur aus dem Job. Was ist das für eine Situation? Wenn wir ohne Kleidung da stehen, haben wir stets das Gefühl, ungeschützt zu sein. Exhibitionisten einmal ausgeschlossen. K. weiter: „Es war ein Sekundenbruchteil der Verunsicherung, die uns beide ereilte. Dann hatten wir schnell die Fassung wieder und lächelten, ich wurde Frau und Kindern vorgestellt, und als ich alles zusammengepackt hatte, regierte wieder die übliche, freundlich-respektvolle Distanz, die unser Verhältnis im Büro bestimmt.“ Dennoch habe sie noch den ganzen Nachmittag bei ihrer weiteren Fahrt übers Land an diese Szene denken müssen. Erwachsen daraus denkbare Vertraulichkeiten? Wird darüber zwischen den Kollegen geredet? Man könnte aus dieser ungewöhnlichen Begegnung eine ganze Menge Spekulationen ableiten. Und es sei doch etwas vollkommen anderes, wenn man etwa Teambuilding-Maßnahmen oder Incentives mit der Belegschaft durchführt.

Misstrauen durch Hierarchien

Allerdings kam K. zu einer erstaunlichen Schlussfolgerung. Denn nachdem sie wieder daheim war, sei ihr ein Licht aufgegangen, wie sie mir berichtete. Solche Begegnungen seien doch das Natürlichste überhaupt, und sicher hätten W. ähnliche Zweifel geplagt. Davon sei sie überzeugt, und dass diese absurde Scham ein ziemlicher Blödsinn sei. Sicher gebe es eine andere Form der Begrenzung des Individuums innerhalb der Arbeitssphäre, als zwischen Bekannten, etwa beim Treffen der Eltern von Mitschülern der Kinder in ähnlicher Situation. Dann nämlich seien die lieben Kleinen das Medium zur selbstverständlichen Lockerheit in der Kommunikation. Arbeit hingegen sei stets mit strengeren Grenzen konnotiert – immer noch. Es wären primär die Hierarchien, die verschiedene Sphären des Misstrauens erzeugten. „Ich frage mich allen Ernstes, ob das so sein oder bleiben muss?“ Mit dieser Geschichte einer unerwarteten Begegnung habe ich unerwarteterweise eine neue, schöne Fragerichtung auf unser derzeit noch vorherrschendes Bild von Menschen in der Arbeit und im „normalen“ Leben bekommen. Vielleicht ist sie ein Indiz für eine verstärkte Notwendigkeit der Arbeit am unbehaglichen Unwesen der Verhältnisse. Oder hat es dieses Emotionengefüge doch seine Berechtigung?