Wohlmeinende Abhängigkeit

Die Käfigbau-Lüge

Es gibt diese Momente, in denen sich das Absurde durch seine Dreistigkeit tarnt. Die Strukturen erschöpfen dich, die Mitarbeitenden zermürben dich, die Verhältnisse lassen sich nicht mehr bewegen – und da steht plötzlich jemand vor dir, der sagt: Bleib nicht zu lange Opfer, du baust dir deinen Käfig selbst.

Die eigentliche Frechheit versteckt sich in der Verschiebung. Was organisational produziert wurde, erscheint jetzt als psychologisches Eigentor. Du bist ausgezehrt von Bedingungen, die andere gesetzt haben, und erfährst nun, dass du dir offenbar selbst der Gefängniswärter bist. Das ist Entpolitisierung in ihrer raffiniertesten Spielart: Die Verantwortung für das, was strukturell erzeugt wird, wandert aus den Verhältnissen in deine Zuständigkeit.

Dass du handlungsfähig bist, steht außer Frage. Du gestaltest, triffst Entscheidungen, bewegst dich in den Konstellationen, die dir begegnen. Die Zumutung liegt woanders: in dem totalitären Anspruch auf dein Selbst, der mit der Psychologisierung einhergeht. Deine Erschöpfung wird zum Symptom mangelnder Selbstoptimierung umgedeutet, deine Situation zur Aufgabe an dir selbst. Was du mit den empfohlenen Mikroschritten erledigst, ist fortan Doppelarbeit: einmal in den Konstellationen, die dich auszehren, einmal an der Justierung deiner Haltung dazu. Der Käfig bleibt bestehen, du trainierst lediglich deine Wendigkeit zwischen den Gitterstäben.

Diese Diagnose macht aus einer relationalen Konstellation – Macht, Hierarchie, ökonomischer Druck – ein Defizit in dir. Solange die Lösung in deinem Inneren gesucht wird, braucht sich außerhalb nichts zu bewegen. Die Mikroschritt-Rhetorik wirkt dabei besonders heimtückisch, weil sie sich so vernünftig anhört, während sie die Frage nach den Bedingungen stillstellt.

Was bleibt, ist eine Haltung, die sich dieser Zumutung entzieht. Durchatmen, Position beziehen, weitergehen – ohne den Anspruch zu akzeptieren, dass die Lösung in deiner permanenten Selbstbearbeitung liegt. Wer die Diagnose zurückweist, verfällt deshalb noch lange nicht in Passivität. Im Gegenteil: Wer die strukturelle Dimension wieder sichtbar macht, handelt bereits.