Aufgaben einer Führungskraft

Führungskraft

Die selbstverständlichen Aufgaben einer Führungskraft

Der verborgene Kern der Leitungsarbeit

Die Frage, was zur Leitungsarbeit gehört, scheint auf den ersten Blick banal. Wer nachfragt, erhält Antworten, die sich wie Auszüge aus Stellenausschreibungen lesen: Strategieentwicklung, Mitarbeiterführung, Budgetverantwortung, Zielerreichung. Doch diese Auflistungen beschreiben lediglich die sichtbare Oberfläche einer Tätigkeit, deren eigentliche Substanz sich im Verborgenen vollzieht.

Führung, so formulierte es Ruth Seliger einmal, sei ein Phänomen, über das alle reden, das niemand exakt beschreiben kann und das jeden, der sich damit beschäftigt, sofort in verschiedene Widersprüche verstrickt. Diese Beobachtung trifft ins Herz der Sache. Denn wer verstehen will, was zu den selbstverständlichen Aufgaben einer Führungskraft gehört, muss bereit sein, hinter die Funktionsbeschreibungen zu blicken und die impliziten, oft unbewussten Erwartungen an die Funktion freizulegen.

Die Arbeit am Unsichtbaren: Dynamiken auffangen

Jede Organisation ist ein lebendiges Geflecht aus Beziehungen, Erwartungen, Ängsten und Hoffnungen. Wo Menschen zusammenarbeiten, entstehen Gruppendynamiken, die sich in keinem Organigramm abbilden lassen. Spannungen zwischen Abteilungen, unausgesprochene Rivalitäten, kollektive Frustrationen – all das bildet eine Art emotionales Unterholz, durch das sich die offizielle Kommunikation ihren Weg bahnen muss.

Zur Leitungsaufgabe gehört es, dieses Unterholz zu kultivieren. Wer führt, fungiert als Regulativ für Energien, die sich ansonsten unkontrolliert entladen würden. Das bedeutet: zuhören, wo andere wegschauen; wahrnehmen, was unter der Oberfläche brodelt; und diese Wahrnehmung in Handlungen übersetzen, die das System stabilisieren, ohne es erstarren zu lassen.

Diese Arbeit am Unsichtbaren erfordert eine besondere Form der Präsenz. Es genügt nicht, Berichte zu lesen und Meetings zu moderieren. Wer Dynamiken auffangen will, muss mit Körper, Geist und Gefühl erfassen, was in einem Raum geschieht. Das ist anstrengend, weil es keine Pause kennt. Anders als bei der Bearbeitung einer Excel-Tabelle lässt sich diese Aufgabe nicht mit einem Klick abschließen und zur Seite legen.

Projektionsfläche: Das unbequeme Privileg

Hier berühren wir einen Aspekt der Führungsrolle, der selten offen ausgesprochen wird: die Funktion als Projektionsfläche. Menschen projizieren auf Autoritätsfiguren, was sie selbst nicht tragen können oder wollen. Der Chef wird zum Blitzableiter für Unzufriedenheit, die ihre Wurzeln oft weit jenseits seines Einflussbereichs hat.

Dies ist weder ungerecht noch vermeidbar – es gehört zur Grundstruktur hierarchisch organisierter Systeme. Wer eine Leitungsposition einnimmt, erklärt sich implizit bereit, diese Projektionen anzunehmen. Das Aushalten dieser psychischen Last gehört zum Selbstverständlichen der Funktion.

Projektionsfläche zu sein bedeutet dabei mehr als passives Erdulden. Es erfordert die Fähigkeit, zwischen berechtigter Kritik und emotionaler Übertragung zu unterscheiden. Wer jeden Unmut persönlich nimmt, wird zerrieben. Wer alles an sich abprallen lässt, verliert den Kontakt zur Realität der Organisation. Die Kunst liegt im differenzierten Annehmen: das Relevante aufnehmen, das Symbolische als solches erkennen, ohne beides zu verwechseln.

Manche Leitungspersonen scheitern an dieser Aufgabe, weil sie die Projektionen zu ernst nehmen – oder gar nicht erst verstehen, was geschieht. Sie reagieren mit Rechtfertigung, Gegenangriff oder Rückzug, statt die ihnen angetragene Spannung zu halten und allmählich zu transformieren. Genau darin liegt ihre eigentliche Wertschöpfung.

Katalysator der Transformation

Organisationen befinden sich im permanenten Wandel. Märkte verschieben sich, Technologien entwickeln sich, gesellschaftliche Erwartungen verändern sich. In dieser Strömung verankert zu bleiben, ohne zu erstarren, ist die zentrale Herausforderung jedes Unternehmens.

Zur Führungsaufgabe gehört es, Veränderung und Entwicklung zu ermöglichen. Wohlgemerkt: zu ermöglichen, nicht zu erzwingen. Ein verbreiteter Irrtum besteht darin, Wandel als etwas zu begreifen, das man von oben verordnet und durch Projektpläne steuert. Tatsächlich funktioniert Transformation so wenig wie ein Grashalm schneller wächst, wenn man daran zieht.

Die Aufgabe besteht vielmehr darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen Entwicklung möglich wird. Das kann bedeuten: Ressourcen umschichten, Freiräume eröffnen, Experimente erlauben, Fehler tolerieren. Es kann auch bedeuten: Widerstände würdigen, Ängste ernst nehmen, Tempo reduzieren. Das Wachstum anstoßen und den folgenden Prozess begleiten, ohne ihn zu überwältigen – das ist eine Kunst, die weniger mit Durchsetzungsvermögen zu tun hat als mit Gespür für das Mögliche.

Organisationscoaching arbeitet auf dieser Metaebene: Es begleitet Menschen bei der Erarbeitung normativ-strategischer Konzepte und thematisiert Widersprüche, Ängste und Widerstände. Eine Leitungsperson, die diese Perspektive verinnerlicht hat, initiiert niemals Veränderung um ihrer selbst willen, sondern erkennt, wann ein System bereit ist für den nächsten Entwicklungsschritt – und schafft dann die Voraussetzungen dafür.

Vorausschau und Entscheidung: Das Kerngeschäft

Am Ende lässt sich die Frage, was zur Führungsarbeit gehört, auf einen Punkt verdichten: eine klare Vorstellung davon zu haben, wohin die Reise geht, und entsprechend zu entscheiden.

Vision ist ein abgenutztes Wort geworden, aufgebläht durch Motivationsrhetorik und Powerpoint-Präsentationen. Was es ursprünglich meint, ist bescheidener und zugleich anspruchsvoller: die Fähigkeit, über den Tellerrand des Gegenwärtigen hinauszublicken und mögliche Zukünfte zu antizipieren. Nicht in Form von Prophezeiungen, sondern als Arbeitshypothesen, die das Handeln orientieren.

Aus dieser Vorausschau erwächst die Pflicht zur Entscheidung. Und hier zeigt sich der eigentliche Grund, warum die Führungsfunktion so fordernd ist: Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen, verlangt die Bereitschaft, Verantwortung für Konsequenzen zu übernehmen, die sich nicht vollständig absehen lassen.

Viele dieser Entscheidungen sind schmerzhaft. Sie betreffen Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, Projekte, die beendet werden, Gewohnheiten, die aufgegeben werden müssen. Wer in der Leitungsfunktion vor solchen Entscheidungen zurückschreckt, delegiert sie faktisch an andere – an den Markt, an Mitbewerber, an den Zufall. Das kann kurzfristig entlasten, langfristig jedoch zerstört es die Handlungsfähigkeit der Organisation.

Das Zögern als Kompetenz

Nun wäre es ein Missverständnis zu glauben, gute Führung bestehe in schnellen, resoluten Entscheidungen. Das Gegenteil trifft ebenso zu: In komplexen Situationen erweist sich oft das Zögern als die klügere Haltung.

Ambiguitätstoleranz nennt man die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten, ohne sie voreilig aufzulösen. Auch diese Spannung zu ertragen gehört zur selbstverständlichen Aufgabe. Während das Team nach Klarheit verlangt und die Stakeholder auf Ergebnisse drängen, muss die Person an der Spitze manchmal die Ruhe aufbringen, eine Situation heranreifen zu lassen.

Das ist unbequem, weil es dem verbreiteten Bild von Führung widerspricht. Entscheidungsfreude gilt als Tugend, Abwarten als Schwäche. Doch wer genauer hinschaut, erkennt: Die wertvollsten Entscheidungen entstehen oft aus einem Prozess des geduldigen Beobachtens, in dem sich die Konturen des Möglichen allmählich klären.

Die relationale Dimension

Ein letzter Aspekt verdient Beachtung. Die herkömmliche Vorstellung verortet Führung in der Person selbst – als Set von Eigenschaften, Kompetenzen, Persönlichkeitsmerkmalen. Diese Sichtweise greift zu kurz.

Führung ist ein relationales Phänomen. Sie ereignet sich zwischen Menschen, im Zusammenspiel von Erwartungen, Zuschreibungen und Interaktionen. Eine Person führt nicht aus sich selbst heraus, sondern weil andere ihr die Leitung übertragen, ermöglichen, abnehmen.

Diese Perspektive verändert das Verständnis dessen, was zum Selbstverständlichen der Funktion gehört. Es geht um die Fähigkeit, in einem komplexen Beziehungsgeflecht eine bestimmte Funktion zu erfüllen. Diese Funktion umfasst das Auffangen von Dynamiken, das Annehmen von Projektionen, das Ermöglichen von Wandel und das Treffen zukunftsweisender Entscheidungen.

All das kann gelingen, wenn die Leitungsperson sich ihrer relationalen Einbettung bewusst ist. Wer glaubt, allein kraft Position oder Persönlichkeit zu führen, übersieht die Hälfte des Spiels.

Fazit: Ein Bündel von Selbstverständlichkeiten

Was gehört zur Führungsaufgabe? Die Antwort lässt sich als Bündel von Selbstverständlichkeiten beschreiben, die es in sich haben: emotionale Untiefen navigieren, ohne darin zu versinken; als Blitzableiter dienen für Spannungen, die man nicht verursacht hat; Veränderung ermöglichen, ohne sie zu erzwingen; und in Ungewissheit entscheiden und die Folgen tragen.

Keine Stellenausschreibung formuliert es so. Keine Zielvereinbarung quantifiziert diese Leistungen. Und doch bilden sie den eigentlichen Kern dessen, was Leitungsarbeit ausmacht. Wer das versteht, begreift auch, warum manche Menschen gut dotierte Führungspositionen ablehnen – und andere trotz aller Widrigkeiten nicht davon lassen können.

Die Funktion fordert von innen heraus. Das macht sie weder heroisch noch bedauernswert. Es macht sie menschlich.