Es gibt diese LinkedIn-Posts, die mit „Heute möchte ich etwas Persönliches teilen“ beginnen. Dann schildert eine Führungskraft ihre heroische Reise vom Praktikanten zum Vice President. Drei Stockfotos von Bergsteigern garnieren das Ganze. Am Ende steht das obligatorische „Agree?“. Man fragt sich, wann genau das Bedürfnis nach Wahrnehmung jene evolutionäre Stufe erreicht hat, auf der Menschen ihre Morgenkaffee-Routine für ein Content-Ereignis von gesellschaftlicher Relevanz halten.
Die Präsenzobsession hat alle Schleusenwände durchbrochen. Führungskräfte entschieden früher diskret in Konferenzzimmern. Heute performen sie ihre Kompetenz wie Straßenmusiker, die permanent ihre Virtuosität unter Beweis stellen. Der Hut kreist für Applaus-Klicks. Das Bemerkenswerte zeigt sich in der Mechanik. Je verzweifelter jemand versucht, gesehen zu werden, desto durchsichtiger wird die Inszenierung. Ein System, das sich selbst aushebelt, während alle weitermachen.
Besonders reizvoll bleiben jene Ausprägungen der Selbstdarstellung, die sich als vermeintliche Authentizität tarnen. Der CEO sitzt im verwaschenen Hoodie. Er sendet aus dem Homeoffice. Er fabuliert von „failures“, die ihn „shaped“ haben. Drei Praktikanten kuratieren währenddessen sein Personal Branding. Die Abteilungsleiterin dokumentiert ihre „Leadership Journey“. Motivationale Platitudes über „Wachstum“ lesen sich wie aus einem Glückskeks gefischt. Man könnte sagen, die Form hat den Inhalt abgelöst, würde die Unterscheidung noch greifen.
Mittlerweile gibt es Anleitungen für „perfekte Hooks“. KI-generierte Formeln versprechen maximale Aufmerksamkeit in den ersten drei Sekunden. „Du machst diesen einen Fehler…“ „Was niemand dir über Leadership sagt…“ „Die Wahrheit über Erfolg, die dich schockieren wird…“ Eine Rhetorik der künstlichen Dringlichkeit überschwemmt die Feeds. Jeder Post brüllt lauter als der vorige. Das Grundrauschen schwillt an zu einem sabbernden Lärm, in dem das Essentielle verstummt. Visibility im Nebel bleibt Nebel.
Sichtbarkeit ist zu einer Art metaphysischem Grundbedürfnis mutiert. Sie steht jetzt auf einer Stufe mit Nahrung oder Schlaf. Wer heute führt, muss die Führungsleistung permanentisieren. Stories, Posts, Podcasts und Panel-Diskussionen werden zur Bühne. Die Existenz allein reicht längst nicht mehr. Sie will medial bezeugt werden. Sie braucht Likes. Sie braucht Kommentare. Sonst hat sie womöglich gar nicht stattgefunden. Ein Kreislauf speist sich selbst. Dabei vergisst er, wofür er eigentlich angetreten ist.
Eine seltsame Dialektik offenbart sich. Mehr Menschen streben nach Gesehen-Werden. Das Signal-zu-Rausch-Verhältnis wird undurchsichtiger. Alle rufen „Schaut her!“. Niemand schaut mehr hin. Alle sind damit beschäftigt, selbst gesehen zu werden.
Eine Ökonomie der Aufmerksamkeit hat sich etabliert. Jeder ist Verkäufer. Niemand will mehr Kunde sein. Das System dreht sich. Es produziert Bewegung. Es erzeugt Hitze. Es kommt nirgendwohin.
Im Büroalltag zeigt sich diese Dynamik in Meeting-Marathons, die primär der Selbstinszenierung dienen. Die Führungskraft muss in jedem Call ihre „two cents“ beisteuern. Der Beitrag senkt die kollektive Intelligenz eher, als dass er sie hebt. Eine sublime Kunst entsteht. Banalitäten werden so verpackt, dass sie nach strategischer Weitsicht klingen. Eine Form von intellektueller Mimikry eignet sich bestens für LinkedIn-Slides.
Man könnte auch einfach schweigen, wenn man nichts zu sagen hat. Das Schweigen hat keine Reichweite.
Das Interessante liegt vielleicht darin, dass Präsenz zum Selbstzweck verkommen ist. Gesehen werden bedeutet weniger, etwas Sehenswertes zu tun. Es geht lediglich darum, dass man überhaupt wahrgenommen wird. Ein existenzielles „Ich bin, weil ich gepostet habe“ entsteht. Ein digitaler Cartesianismus würde jeden Philosophen verzweifeln lassen.
Wobei sich die Frage stellt, was da eigentlich brennt unter der Oberfläche. Anerkennung, Zuwendung, Geborgenheit – urmenschliche Bedürfnisse, die sich im Appell nach „Sichtbarkeit“ Bahn brechen. Eine toxische Verkopplung entsteht, wenn das Verlangen nach Resonanz sich in Reichweite übersetzt. Die Sehnsucht nach Verbindung mutiert zur Metrik. Likes als Ersatzwährung für das, was eigentlich gemeint ist. Wobei sich auch Verzweiflung vermutlich zu Content verarbeiten ließe.
Das Paradoxe zeigt sich in der Energieverteilung. Je mehr Kraft in die Schau-Mich-An-Dynamik fließt, desto weniger bleibt für das, was eigentlich sichtbar werden sollte. Der Aufwand, gesehen zu werden, übersteigt irgendwann die Substanz dessen, was es zu sehen gibt.
Ein Ungleichgewicht verstärkt sich selbst. Am Ende bleibt die Performance übrig. Glänzende Oberfläche ohne Tiefgang. Man könnte auch sagen: viel Rauch, wenig Feuer.
Was passiert eigentlich, wenn alle permanent präsent sind? Vermutlich das Gleiche wie bei einer Party, auf der alle gleichzeitig reden. Niemand hört mehr zu. Das Wertvollste wird jenes ruhige Gespräch in der Ecke. Es wurde nie aufgezeichnet. Es wurde nie gepostet. Es wurde nie performt.
Während die einen ihre nächste Story planen, findet die eigentliche Führungsleistung still und unspektakulär statt. Wu Wei im Büroalltag, wenn man so will.
Vielleicht verhält es sich wie mit einem Baum. Er wächst, ohne seine Größe anzukündigen. Er gibt Schatten, ohne dafür Dankbarkeit einzufordern. Er trägt Früchte, ohne vorher Reichweite aufzubauen. Daraus lässt sich eben kein viraler Post basteln. Das ist möglicherweise genau der Punkt.