Vom Führerbunker ins Chefbüro

Eine Genealogie moderner Organisationslogik

Prolog: Das Vokabular der Gewalt im Businessanzug

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Besprechungsraum irgendwo zwischen Frankfurt und München. Die Präsentation läuft, jemand spricht von „Kampagnen“, „Strategie“, „Eroberung von Marktanteilen“, von der „Schlacht um Talente“ und „kampferprobten Teams“. Niemand zuckt zusammen. Das Vokabular einer Institution, deren Kernkompetenz die effiziente Tötung von Menschen ist, hat sich in die Alltagssprache der Wirtschaft eingegraben – unsichtbar geworden durch Wiederholung. Die Wirtschaft hat das Militär absorbiert – gesamtes Denksystem, alle ethischen Vorbehalte an der Garderobe abgegeben.

Diese sprachliche Mimikry verweist auf etwas, das tiefer reicht als Metaphorik. Wer in Kriegsbildern denkt, organisiert auch so. Was als rhetorische Anleihe beginnt, setzt sich als institutionelle Architektur fest – die Sprache liefert die Grammatik, nach der Beziehungen zwischen Menschen dann tatsächlich strukturiert werden. Wer sich wundert, warum er sich zunehmend wie eine Figur auf einem Schachbrett fühlt – disposabel, austauschbar, strategisch positioniert –, sollte auf das Vokabular achten, in dem über ihn gesprochen wird.

I. Hierarchie als Naturgesetz: Die gemeinsame DNA von Kaserne und Konzern

Dass militärisches Vokabular sich so mühelos in wirtschaftliche Kontexte übersetzen lässt, liegt an einer gemeinsamen organisatorischen Grundannahme: Führung funktioniert in beiden Sphären nach einem Prinzip, das so selbstverständlich geworden ist, dass es kaum noch als Wahl erscheint. Hierarchie wird zur zweiten Natur erklärt. Der General gibt Befehle, der CEO verkündet die Vision – jeweils in der Annahme, dass die Truppe folgt. Dieser Befehlskettenromantizismus durchzieht Organisationen wie eine unausgesprochene Grundannahme über die Beschaffenheit der Welt. Er kleidet sich in Effizienz, legitimiert sich durch Notwendigkeit, erwartet keinen Widerspruch.

Das Militär behandelt Hierarchie als pragmatische Variable: Kommandoeinheiten operieren mit flachen Strukturen, Großverbände mit steilen. Die Organisationsform folgt dem operativen Zweck, fertig. Im Business dagegen wird daraus Weltanschauung destilliert. Ob „flache Hierarchien“ oder klassisch-pyramidal – die vertikale Ordnung bleibt bestehen, aber die Wirtschaft verkauft jede Variante als Kulturrevolution. Agile Squads, holokratische Kreise, selbstorganisierte Teams: Anpassungen der Befehlsarchitektur an veränderte Produktionsbedingungen, inszeniert als Befreiungsnarrative. Die Armee konfiguriert Organisationsformen zweckgebunden. Unternehmen müssen jede Umstrukturierung mit Sinnversprechen aufladen, weil ihnen die existenzielle Legitimation fehlt, die militärische Organisationen mitgeliefert bekommen.

Die Degradierung von Menschen zu ausführenden Variablen gilt dabei als unvermeidlicher Nebeneffekt der Produktivität. Man spricht von „Humankapital“ oder „Ressourcen“ – Begriffe, die sich von „Menschenmaterial“ hauptsächlich durch ihre angenehmere Phonetik unterscheiden. Die Haltung dahinter bleibt verblüffend stabil: Menschen werden als Input begriffen, der optimiert werden muss, damit der Output stimmt. Keine Verschwörung, eher die Mechanik eines Systems, das sich durch Wiederholung naturalisiert hat.

Was diese Mechanik ideologisch zusammenhält, ist älter als die Institutionen selbst: der Sozialdarwinismus, Herbert Spencers Umdeutung Darwins zur ökonomischen Rechtfertigungslehre. Wenn Selektion der „Stärkeren“ als biologisches Gesetz gilt, verschwindet die politische Dimension von Herrschaft hinter vermeintlicher Naturnotwendigkeit. Die „kampferprobten Teams“, der „Wettbewerb“ als zivilisatorischer Motor, das ganze Vokabular der Konkurrenz als evolutionärem Imperativ – diese pseudowissenschaftliche Grammatik erklärt, warum sich militärische und wirtschaftliche Organisation so mühelos ineinander übersetzen lassen. Was Spencer als „survival of the fittest“ verkaufte, funktioniert in beiden Sphären als Legitimationsressource: Im Markt wie im Krieg gilt angeblich dasselbe Gesetz. Gesellschaftsordnung wird zur Naturordnung erklärt, Sachzwang ersetzt politische Entscheidung.

Hier zeigt sich ein entscheidender Unterschied in der Operationslogik, der dann wieder auf eine strukturelle Gemeinsamkeit verweist. Das Militär hat es mit der Sinnstiftung vergleichsweise einfach: Es verteidigt abstrakte Werte oder es greift an, um vermeintlich Schlimmeres abzuwenden. Soldaten heuern an in der Annahme, dass ihre Mission entweder Schutz bedeutet oder – in jener merkwürdigen imperialen Logik, die sich selbst als zivilisatorisch versteht – dass sie Glück und das Richtige über die Überfallenen bringen. Die moralische Rechtfertigung ist im Soldatenberuf präformiert, eingebaut ins Rollenbild.

Unternehmen hingegen müssen ihre Leute mühsam auf Vision, Mission, Ziele und Strategien einschwören – ein unendlich zähes Kommunikationsgeschäft, das ein weites Betätigungsfeld für Berater jeglicher Couleur eröffnet. Change Management, Kulturwandel, Purpose-Workshops, Town Halls zur Strategievermittlung – die Instrumente, mit denen man Menschen davon überzeugen will, dass der Quartalsbericht eine sinnstiftende Erzählung abgibt. Das Militär spart sich diesen Aufwand weitgehend, weil der Dienst an der Nation oder die Landesverteidigung als Legitimationsressource bereits vorhanden ist. Wirtschaftsorganisationen müssen sich ihre Sinnkonstruktionen erst erarbeiten, was paradoxerweise dazu führt, dass sie militärische Rhetorik importieren: der „Kampf“ um Marktanteile verleiht dem Produktivitätsziel den Glanz existenzieller Notwendigkeit.

II. Die kolonialen Wurzeln der Expansionslogik

Diese Verwandtschaft zwischen militärischer und wirtschaftlicher Organisation ist historisch gewachsen. Wirtschaftliche Expansion war stets der kleine Bruder des Krieges, die Annexionslogik funktioniert identisch: Territorien erschließen, Ressourcen extrahieren, lokale Gefüge zerschlagen und durch eigene ersetzen. Der Kolonialismus hat das Drehbuch geschrieben, das später umbenannt werden musste.

Die East India Company verkörpert diesen Prototyp in Reinform – ein Handelsunternehmen, das zugleich Besatzungsmacht war, das mit Kaufleuten operierte, die auch Soldaten waren, das Profit und Gewalt als zwei Seiten derselben Medaille verstand. Dividenden aus Opiumkriegen, Shareholder-Kapitalismus finanziert durch systematische Hungersnöte und Plünderung ganzer Regionen. Als die Company Anfang der 1770er Jahre in eine existenzielle Krise geriet – überexpandiert, überschuldet, durch Korruption ausgehöhlt – griff der britische Staat 1773 mit dem Regulating Act ein und rettete sie als erste „too big to fail“-Institution der Geschichte. Das Muster sitzt seitdem: privatisierte Gewinne, sozialisierte Verluste, Krisenkorporatismus als Geschäftsmodell.

Diese Verschmelzung hat sich ins kollektive Gedächtnis der Kapitalakkumulation eingebrannt. Was damals militärische Eroberung hieß, nennt man heute Marktdurchdringung, Joint Ventures in Schwellenländern, strategische Positionierung. Die Terminologie hat sich zivilisiert, die Mechanik bleibt: eindringen, dominieren, abschöpfen.

Die koloniale Extraktionslogik – fremde Territorien durch militärische Gewalt für wirtschaftliche Ausbeutung erschließen – findet ihre innere Fortsetzung in der industriellen Rationalisierung des späten 19. Jahrhunderts. Was der Kolonialismus geographisch vorexerzierte, perfektionierte der Taylorismus organisatorisch. Frederick Winslow Taylor vermaß ab den 1880ern Arbeiter mit der Stoppuhr, zerlegte ihre Bewegungen in atomisierte Einzelschritte, eliminierte jede Autonomie aus dem Produktionsprozess. Scientific Management hieß das euphemistisch – in Wahrheit war es die Übertragung militärischer Disziplinartechniken auf die Fabrik. Der Arbeiter als Maschine, die Produktion als Drill, jede Regung erfasst, getaktet, optimiert. Henry Ford trieb das zur Perfektion: Das Fließband als industrialisierte Kaserne, wo Menschen zum Takt der Maschine funktionieren oder aussortiert werden. Gramsci erkannte darin eine neue Form der Herrschaft – nicht mehr durch offenen Zwang, eher durch die Internalisierung des Produktionsrhythmus, die Selbstunterwerfung unter die Effizienzlogik. Diese transatlantische Tradition der Rationalisierung bereitete den Boden für das, was nach 1945 in Deutschland als „moderne Führung“ verkauft werden konnte.

III. Eisenhowers Warnung und die strukturelle Verflechtung

Dass die Grenzen zwischen Kriegsführung und Geschäftsführung verschwimmen, ist kein Zufall und auch keine neue Erkenntnis. Der Soziologe C. Wright Mills hatte 1956 in „The Power Elite“ den Begriff des „militärisch-industriellen Komplexes“ geprägt und die engen Interessenverbindungen zwischen Militär, Wirtschaft und politischen Eliten im Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg analysiert. Fünf Jahre später, am 17. Januar 1961, machte Dwight D. Eisenhower – ausgerechnet ein Fünf-Sterne-General und Held des Zweiten Weltkriegs – diesen Begriff in seiner Abschiedsrede zu einem politischen Schlagwort, als er vor dieser Verflechtung zwischen Pentagon und Rüstungskonzernen warnte, die sich gegenseitig nähren und dabei demokratische Prozesse zu untergraben drohen.

Eisenhowers Politik hatte eine permanente Rüstungsindustrie von gewaltigen Ausmaßen etabliert – eine Entwicklung, die er selbst zunehmend kritisch beäugte, auch wenn er sie angesichts des Kalten Krieges für unvermeidlich hielt. Vielleicht brauchte es genau diese Position – die des Architekten, der sein eigenes Werk von innen kennt – um zu verstehen, wohin die Entwicklung führt. Seine Warnung enthüllte kein Geheimnis – sie benannte offen, was alle wussten: dass Profit und Patriotismus, Kriegsvorbereitung und Wirtschaftswachstum inzwischen untrennbar geworden waren. Die Ironie liegt genau darin – das Offensichtliche auszusprechen verschaffte erst die Legitimation, es zu kritisieren.

Eisenhower sprach von der „acquisition of unwarranted influence, whether sought or unsought“ – vom Erwerb ungerechtfertigten Einflusses, ob gesucht oder ungesucht. Diese Formulierung ist präziser, als sie zunächst klingt. Der militärisch-industrielle Komplex operiert durch strukturelle Anreize, durch sich selbst verstärkende Profitmechanismen, durch das stillschweigende Einvernehmen derer, die vom Status quo profitieren. Kontrolle muss man gar nicht aktiv ausüben, wenn das Gefüge sich selbst kontrolliert.

Was Eisenhower für die Rüstungsindustrie diagnostizierte, verweist auf eine tiefere organisatorische Konvergenz: Militärische und wirtschaftliche Institutionen teilen dieselben Steuerungsprinzipien – Effizienz durch Hierarchie, Flexibilität durch Dezentralisierung, Kontrolle durch Zielvorgabe. Die Managementtheorie der letzten Jahrzehnte hat dieses Fusionsdenken systematisiert: Strategie, Taktik, Einheiten, Missionen. Man spricht vom „war for talent“, von „agilen Kampftruppen“, als wäre der Schreibtisch ein Gefechtsstand und jede Teambesprechung eine Lagebesprechung. Die Rhetorik wird aus historischer Gedankenlosigkeit gepflegt, dabei verhält es sich umgekehrt: Die Sprache formt das Denken, das Denken formt die Architektur.

IV. Reinhard Höhn: Vom SS-Oberführer zum Management-Guru

Wie tief diese Kontinuität wirklich reicht, zeigt sich an einer Karriere, die man in der offiziellen Geschichtsschreibung des deutschen Wirtschaftswunders lieber ausklammern würde: Reinhard Höhn, SS-Oberführer, führender Kopf der NS-Rechtstheorie, Theoretiker der „Menschenführung“ im Dritten Reich, gründete 1956 in Bad Harzburg eine Akademie für Führungskräfte, die zum intellektuellen Mekka des bundesrepublikanischen Managements wurde.

Bis zu Höhns Tod im Jahr 2000 durchliefen etwa 600.000 Führungskräfte die Fortbildungskurse der Akademie, weitere 100.000 absolvierten das Fernstudium zum „Harzburg-Diplom“. BMW, Opel, Bayer, Aldi, Thyssen, Krupp – die gesamte industrielle Elite der Bundesrepublik entsandte ihre Kader nach Bad Harzburg. Die Bundeswehr, die doch eigentlich einen radikalen Bruch mit der militärischen Vergangenheit markieren sollte, ließ ebenfalls dort ausbilden – bis Verteidigungsminister Helmut Schmidt 1972 die Zusammenarbeit beendete, nachdem Höhns Vorgeschichte in der Presse thematisiert worden war.

Das Dozententeam liest sich wie eine Reunion des Reichssicherheitshauptamts: Justus Beyer, ehemaliger SS-Obersturmbannführer und Höhns Doktorand, unterrichtete dort genauso wie Franz Alfred Six, der als SS-Brigadeführer das Amt VII des RSHA geleitet und Einsatzgruppen in der Sowjetunion organisiert hatte. Diese Leute standen in den Sechzigerjahren vor deutschen Top-Managern und sprachen über „moderne Menschenführung“ – eine Kontinuität, die sich jeder Satire entzieht.

Das Harzburger Modell: Dezentrale Kontrolle als Führungsprinzip

Höhn hatte in den Dreißigerjahren die Flexibilität des polykratischen NS-Herrschaftsmodells theoretisiert – jenes absichtlich chaotische Gefüge konkurrierender Machtstrukturen, bei dem SS, Wehrmacht, Gestapo, Sicherheitsdienst und diverse Sonderbehörden sich gegenseitig unterliefen. Diese scheinbare Anarchie war kein Zufall: Sie erzeugte Flexibilität durch Konkurrenz, verhinderte die Verfestigung alternativer Machtzentren und hielt alle in permanenter Unsicherheit.

Eine Generation später verkaufte Höhn exakt dasselbe Organisationsprinzip als moderne Verwaltungsreform, als Vorläufer dessen, was wir heute New Public Management nennen. Aus „Menschenführung“ wurde „Führung durch Zielvereinbarung“ – Höhns Variation dessen, was Drucker „Management by Objectives“ nannte, aus der Auftragstaktik die dezentrale Verantwortungsstruktur. Was Höhn bereits bei Scharnhorsts preußischen Heeresreformen des frühen 19. Jahrhunderts angelegt sah – die Ablösung des friderizianischen Kadavergehorsams durch flexible Befehlsstrukturen –, verpackte er als Befreiung des modernen Mitarbeiters von überholter Gängelei.

Das Perfide an diesem Modell liegt in seiner scheinbaren Emanzipation. Es delegiert Verantwortung nach unten, während die Definitionsmacht oben verbleibt. Die oberen Chargen geben das Ziel aus, die unteren müssen selbst entscheiden, wie sie es erreichen – und tragen dann die Schuld, wenn’s schiefgeht.

Ab 1969 bot die Akademie Sonderseminare für Spitzenbeamte der Bundes- und Länderverwaltungen an – „moderne Managementmethoden“ für den öffentlichen Dienst. Was dort gelehrt wurde, setzte sich dreißig Jahre später flächendeckend durch: Output-Steuerung statt Legalitätsprinzip, Wettbewerb zwischen Behörden, „Produktverantwortung“ als neue Leitlogik. Die Verwaltungsreformen der Neunzigerjahre unter Schröder, Blair und Clinton übersetzten Höhns Ideen in Regierungsprogramme – seine späte, postume Revanche an der Bürokratie, die er schon in den Dreißigerjahren verachtet hatte.

Die ideologische Grundierung für diese Transformation hatte Friedrich August von Hayek bereits 1947 mit der Gründung der Mont Pèlerin Society gelegt – jenes Netzwerk von Ökonomen, das vierzig Jahre lang die neoliberale Konterrevolution vorbereitete. „Der Weg zur Knechtschaft“ erschien als Kampfschrift gegen Planwirtschaft, aber Hayeks „spontane Ordnung“ des Marktes folgt selbst militärischer Logik: dezentrale Entscheidungen bei zentraler Zielvorgabe, die Mission heißt jetzt Profitmaximierung statt Geländegewinn. Die Österreichische Schule lieferte die ökonomische Theorie für das, was Höhn organisatorisch umsetzte – beides passt nahtlos zusammen, weil beides aus demselben Misstrauen gegen demokratische Prozesse schöpft, die Expertokratie mehr zutraut als der Deliberation.

In Deutschland wurde dieses Modell nach der Wiedervereinigung zum Feldversuch unter Laborbedingungen. Die Treuhandanstalt privatisierte zwischen 1990 und 1994 etwa 8.500 Betriebe, vernichtete dabei 2,5 Millionen Arbeitsplätze und baute eine ganze Volkswirtschaft nach Marktlogik um. Birgit Breuel, zuvor Finanzministerin in Niedersachsen und bestens vernetzt mit der Wirtschaftselite, führte das durch wie eine feindliche Übernahme im nationalen Maßstab – „Sanierung durch Schließung“ als Doktrin. Das war NPM als Schocktherapie, die Blaupause für spätere Austeritätspolitik in Südeuropa. Auch hier die vertraute Kontinuität der Eliten: Die Treuhand rekrutierte aus dem Westen, ehemalige Konzernmanager übernahmen die Abwicklung, alte Netzwerke sorgten für Anschlussfähigkeit. Was 1945 für die Bundesrepublik galt, wiederholte sich 1990 für die Ex-DDR – diesmal installierten Wirtschaftskader die neue Ordnung, nicht Wehrmacht-Offiziere.

Die Konsequenzen dieser Organisationslogik lassen sich empirisch greifen. Die WHO klassifiziert Burn-out seit 2019 als „occupational phenomenon“ – bewusst nicht als Krankheit, eher als Systemfolge. Das ist die institutionelle Kapitulation vor der Erkenntnis, dass moderne Arbeitsorganisation systematisch Menschen zerstört. Alain Ehrenberg hat in „Das erschöpfte Selbst“ beschrieben, wie die Umstellung von Fremd- auf Selbstausbeutung Depression als Massenphänomen erzeugt. Byung-Chul Han nennt es die „Müdigkeitsgesellschaft“ – jene Formation, in der das Subjekt sich selbst optimiert, kontrolliert, verwertet, bis es kollabiert. Höhns Modell lässt sich dann als Pathogenese lesen: Die Delegation von Verantwortung bei gleichzeitiger Kontrolle der Zielvorgaben produziert zwangsläufig psychische Erschöpfung, weil das Versprechen der Autonomie permanent durch die Realität der Fremdbestimmung dementiert wird. Der französische Historiker Johann Chapoutot hat diese Dynamik in seinem Buch „Gehorsam macht frei“ präzise analysiert: Das Harzburger Modell beruht auf einer fundamentalen Irreführung, die Menschen von versprochener Freiheit in sichere Entfremdung verschiebt – zur größtmöglichen Entlastung der Führung, die für mögliches Scheitern nicht mehr allein verantwortlich ist.

Die Anschlussfähigkeit der Systeme

Chapoutot betont ausdrücklich, dass es ihm nicht darum geht, heutige Managementprinzipien als im Kern nationalsozialistisch zu denunzieren. Weder Antisemitismus noch Rassismus noch der Kollektivismus der Volksgemeinschaft spielen im zweiten Leben Reinhard Höhns eine manifeste Rolle. Die beunruhigende Frage liegt woanders: Die Anschlussfähigkeit von NS-Menschenführung und moderner Managementtheorie ist verblüffend groß. Höhn ist den Weg vom fanatischen Nazi zum respektierten Wirtschaftsguru mit traumwandlerischer Leichtigkeit gegangen. Die Schnittmenge der Ideologeme, der Organisationsprinzipien, der Führungsphilosophien ist größer, als uns lieb sein kann.

Die entscheidende Frage ist dabei weniger, ob moderne Manager heimliche Nazis sind – natürlich sind sie das nicht. Die Frage ist, wie einfach dieser Weg in umgekehrter Richtung sein könnte. Welche Denkfiguren, welche Organisationsmuster, welche Menschenbilder lassen sich so mühelos von einem Gefüge ins andere übertragen? Und was sagt das über die innere Verfasstheit beider aus?

V. Die Bundeswehr als Laboratorium der Kontinuität

Die Bundeswehr selbst wurde zum Experimentierfeld dieser Fragen. Bei ihrer Gründung 1955 bestand das gesamte Führungspersonal – Offiziere, Generäle, die komplette militärische Elite – aus ehemaligen Wehrmachtsangehörigen. Konrad Adenauer begründete das mit bemerkenswerter Offenheit: „Ich glaube, dass mir die NATO achtzehnjährige Generale nicht abnehmen wird.“ Um in militärische Führungsränge zu gelangen, braucht es Jahre der Ausbildung und Dienstzeit. 1955 bedeutete das: Es gab kein deutsches militärisches Führungspersonal, das nicht in der Wehrmacht gedient hatte.

Das erzeugte ein Spannungsfeld, das sich nie wirklich auflöste, und zwar auf drei Ebenen: personell, organisatorisch und narrativ. Die Himmeroder Denkschrift vom Oktober 1950 schwor den Formen der Wehrmacht ab, wollte „grundlegend Neues“ schaffen, den „Staatsbürger in Uniform“, der sich aus innerer Überzeugung zur demokratischen Staats- und Lebensform bekennt. In der Praxis bedeutete das: Leute, die ihre militärische Prägung in der Wehrmacht erhalten hatten, die dort Offizierslaufbahnen durchlaufen, Kriegserfahrungen gemacht und ein bestimmtes Soldatenbild internalisiert hatten, sollten eine Armee aufbauen, die sich von eben dieser Wehrmacht fundamental unterschied.

Die Lösung hieß „Innere Führung“ – ein Konzept, das zwischen totalem Zwang und totaler Freiheit vermitteln sollte, das den Soldaten als mündigen Bürger in Uniform imaginierte, der Befehle hinterfragt und notfalls verweigert, wenn sie verfassungswidrig sind. Das Erbe des 20. Juli 1944, der Widerstand gegen Hitler, sollte zur Gründungserzählung werden. Die Idee war bestechend: Soldaten, die aus eigenem Gewissen heraus bereit sind, Befehle zu verweigern, würden nie wieder zu Werkzeugen eines verbrecherischen Regimes.

Die Wahl des Gründungstags verrät dabei mehr über das Selbstverständnis als jede Programmatik: Der 12. November 1955 markierte den 200. Geburtstag Gerhard von Scharnhorsts, des preußischen Reformers, der nach der Niederlage von 1806 das stehende Söldnerheer in eine Volksarmee verwandelte. Scharnhorsts Credo – „jeder Bürger eines Staates müsse zugleich dessen geborener Verteidiger sein“ – klingt nach demokratischer Partizipation, meint aber die totale Mobilisierung der Bevölkerung für Staatszwecke. Die Heeresreform war Proto-Aktivierung: Nicht mehr der Staat verteidigt seine Untertanen, die Untertanen schulden dem Staat ihre Verteidigung. Dieser Wehrpflichtgedanke, der Clausewitz‘ Konzept des „absoluten Krieges“ erst ermöglichte, wurde zur Traditionslinie einer demokratischen Armee erklärt – die Totalmobilisierung der Gesellschaft als Emanzipationsprojekt verkauft, dabei Vorstufe zur Ökonomisierung jeder Lebensregung.

Die Realität der Umsetzung

Die Realität sah anders aus. Eine interne Studie der Führungsakademie der Bundeswehr stellte Jahrzehnte später fest, dass die „im engeren Sinne militärischen Leistungen der Soldaten der Wehrmacht Vorbildcharakter“ gewonnen hätten. Die „militärhandwerklichen Qualitäten“ der Wehrmacht wurden als Maßstab an die eigene soldatische Professionalität angelegt. Die im gültigen Traditionserlass vorgesehene Differenzierung zwischen individueller Pflichterfüllung und der Rolle der Wehrmacht als militärischem Instrument des Dritten Reichs wurde, so die Analyse, durch die Betonung angeblicher Gemeinsamkeiten in der Kriegsführung überlagert.

Das Selbstverständnis der Bundeswehr war, wie der Militärhistoriker Jörg Echternkamp formulierte, in den ersten Jahrzehnten wesentlich vom Verhältnis zur Wehrmacht geprägt. Der Mythos der „sauberen Wehrmacht“ – einer Armee, die lediglich in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt war, aber an den nationalsozialistischen Verbrechen nicht beteiligt gewesen sein sollte – hielt sich bis weit in die Neunzigerjahre. Erst die Wehrmachtsausstellung von 1995 und die klare Positionierung des damaligen Verteidigungsministers Volker Rühe, dass die Wehrmacht als „Organisation des Dritten Reiches“ sehr wohl in die „Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt“ gewesen sei, markierte einen Wendepunkt.

VI. Die NS-Eliten in Wirtschaft und Verwaltung

Die Bundeswehr war dabei kein Sonderfall – symptomatisch eher für die frühe Bundesrepublik insgesamt. Der britische Botschafter in Bonn, Sir Christopher Steel, analysierte 1959 in einem Bericht an seine Regierung: Die traditionellen deutschen Eliten seien beinahe vollständig in ihre einstigen Positionen in Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft zurückgekehrt. Auch die einstigen NS-Größen lebten in einigem Wohlstand und guten Positionen – vorrangig allerdings in freien Berufen und in der Industrie, weniger in der Politik.

Für die erste Garnitur der NS-Eliten blieben Spitzenpositionen in der westdeutschen Politik weitgehend verschlossen. Für sie öffneten sich die freien Berufe und die Wirtschaft, vermittelt durch alte, nicht selten bis in die Studienzeit zurückreichende Kontakte. Ehemalige mittlere Gestapo- und SS-Leute rückten in hohe Ränge der bundesdeutschen Polizei ein; Mitte der Fünfzigerjahre stellten sie offenbar nicht wenige Polizeipräsidenten in den größeren Städten Westdeutschlands.

Die westlichen Geheimdienste beobachteten diese Entwicklung aufmerksam, berichteten aber übereinstimmend, dass sich diese Ex-Nazis keinesfalls im nationalsozialistischen Sinne betätigten. Die Entnazifizierung war zu diesem Zeitpunkt zu einem Verfahren verkommen, durch das ehemalige Nationalsozialisten das Stigma ihrer früheren Tätigkeiten loswurden. Die Personalpolitik Konrad Adenauers basierte auf der Auffassung, dass die Konstituierung des neuen Staates ohne die einstigen NS-Führungsgruppen, insbesondere in den Verwaltungen, vermutlich nicht möglich gewesen wäre.

VII. Die Rhetorik der Anpassungsfähigkeit

Zurück zur Gegenwart. Natürlich wird das heute anders verkauft. Man redet vom dynamischen Umfeld, von Anpassungsfähigkeit, vom Mut zum Umdenken – als hätte man die Agilität gerade erst erfunden, dabei wird alter Drill in neues Vokabular gepackt. Diese Flexibilitätsrhetorik verschleiert, dass die Grundmechanik unverändert bleibt: Die Definitionsmacht liegt oben, die Ausführungsverantwortung unten. Wer nicht mitkommt, fällt durchs Raster. Die vermeintliche Innovationskultur entpuppt sich oft genug als taktische Anpassung innerhalb starrer Kommandostrukturen.

Die aktuellste Mutation dieses Musters tarnt sich als Bruch mit Hierarchie: Agile Methoden, Scrum, selbstorganisierte Teams. Das Vokabular kommt aus der Softwareentwicklung, aber die Struktur bleibt vertraut. „Selbstorganisiert“ heißt: Das Team entscheidet, wie es die vorgegebenen Ziele erreicht – die Ziele selbst bleiben unangetastet, definiert von Product Ownern und Stakeholdern. Sprints sind Missionen mit Zwei-Wochen-Takt, Daily Stand-ups ritualisierte Kontrolle, Retrospektiven erzwungene Selbstoptimierung. Höhns Prinzip kehrt hier wieder: Delegation der Ausführung bei Beibehaltung der strategischen Kontrolle. Der „Scrum Master“ moderiert diesen Prozess, während die eigentliche Macht bei denen liegt, die das Product Backlog befüllen.

Dass sich Militär wie Wirtschaft dabei auf dieselben intellektuellen Quellen berufen, verrät die gemeinsame Genealogie. Das Militär nennt sein Konzept „Vernetzte Operationsführung“, die Wirtschaft schwärmt von „systemischem Denken“ – zwei Varianten derselben kybernetischen Steuerungsphantasie. Die Genealogie führt zurück zu den Macy-Konferenzen der späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahre: Norbert Wiener, Warren McCulloch, Margaret Mead, Claude Shannon, John von Neumann – ein interdisziplinärer Zirkel, der eine gemeinsame Sprache für die Beschreibung von Systemen entwickeln wollte, egal ob biologisch, maschinell oder sozial. „Kybernetik“ hieß das Zauberwort, und es versprach, Kommunikation und Kontrolle in einem Atemzug zu denken.

Das Projekt fragmentierte intellektuell, triumphierte aber technologisch. Was bei den Macy-Konferenzen als Versuch begann, organische und mechanische Systeme über Rückkopplungsschleifen zu verstehen, mutierte zu Spieltheorie, neuronalen Netzen, Informationstheorie – den Bausteinen dessen, was heute als KI firmiert.

Die entscheidende Zwischenstation auf diesem Weg: die RAND Corporation, jene Denkfabrik, die ab 1948 Operations Research, Nuklearstrategie und ökonomische Modellierung zusammenschmolz. Herman Kahn kalkulierte dort Millionen Atomkriegstote durch wie Portfoliorisiken, Thomas Schelling spielte nukleare Eskalation als Verhandlungstaktik durch und bekam später den Wirtschaftsnobelpreis dafür. Bei RAND wurde der Krieg zur Optimierungsaufgabe, die Vernichtung zur Variablen in Entscheidungsmodellen – eine Denkweise, die sich mühelos in Unternehmensstrategien übersetzen ließ, sobald man „Marktanteil“ statt „Territorium“, „Konkurrent“ statt „Feind“ und „Mitbewerber“ statt „Gegner“ einsetzte.

Die zentrale Ressource in diesem Übersetzungsprozess: Information als operativer Vorteil. Admiral Cebrowski entlehnte die Prinzipien des „Network-Centric Warfare“ direkt aus der Wirtschaftspraxis – Echtzeitdaten, dezentrale Entscheidung, maximale Vernetzung. Umgekehrt importierte die Wirtschaft militärische Organisationsformen unter dem Label „vernetzte Organisationen“. Was im Gefecht die Lagekenntnis, ist im Markt die Wettbewerbsintelligenz: Wer schneller Daten verarbeitet, trifft bessere Entscheidungen, gewinnt den Vorteil.

In Deutschland übersetzte Frederic Vester ab den Siebzigern kybernetische Prinzipien in Managementsprache – Biokybernetik für Führungskräfte, Club-of-Rome-Rhetorik, Sensitivitätsmodelle zur Analyse komplexer Systeme. Parallel dazu etablierte Fredmund Malik in St. Gallen die kybernetische Betriebswirtschaftslehre, übersetzte William Ross Ashbys „Law of Requisite Variety“ in Unternehmensführung – die Idee, dass ein System zur Steuerung komplexer Umwelten selbst komplex genug sein muss. Was bei Ashby noch erkenntnistheoretische Bescheidenheit war, wurde bei Malik zur Lizenz für Management-Omnipotenz: Komplexität managen durch noch mehr Komplexität, Hierarchien flacher machen durch zusätzliche Steuerungsschleifen.

Was systemtheoretisches Denken für Organisationen bedeutet, hat Niklas Luhmann präzisiert: Soziale Systeme bestehen aus Kommunikation, nicht aus Menschen – diese gehören zur Umwelt des Systems. Diese analytische Unterscheidung hat praktische Konsequenzen: Sie erlaubt, Organisationsarchitekturen unabhängig von der Psyche ihrer Mitglieder zu analysieren – eine Perspektive, die hierarchische Organisationen gerne aufgreifen, weil sie individuelle Verantwortung in Systemdynamiken auflöst. Luhmann selbst war skeptisch gegenüber simplen Steuerungsphantasien: Interessanter als ein Ziel zu setzen und die Realität daran anzupassen, sei die Frage, welche Differenz sich überhaupt vermindern lässt.

Was Luhmann beschreibt, lässt sich mit Michel Foucault schärfer fassen: Die Umstellung von Disziplinar- auf Kontrollgesellschaft, von direktem Befehl auf indirekte Steuerung durch internalisierte Ziele. Foucaults „Gouvernementalität“ meint genau das – Macht funktioniert weniger durchs Verbot als durchs Aktivieren, Optimieren, zur Selbstführung Anleiten. Die Definition von Zielen ersetzt den Befehl, das Subjekt richtet sich selbst zu. Höhns Modell ist Gouvernementalität avant la lettre: Die Führung gibt die Mission aus, die Geführten müssen selbst herausfinden, wie sie sie erfüllen, und tragen dann die volle Verantwortung für Erfolg oder Scheitern. Diese Form der Machtausübung ist effizienter als direkter Zwang, weil sie Kontrolle ins Subjekt verlagert – „Sicherheit, Territorium, Bevölkerung“ als theoretische Blaupause für moderne Organisationslogik.

Noch dreister wird’s beim Thema Beziehungen und Vertrauen. Plötzlich entdeckt der Organisationsapparat, dass Menschen einander vertrauen müssen, um effektiv zu kooperieren – welch anthropologische Pionierleistung. Militär wie Konzerne kultivieren diese merkwürdige Kameradschaftsfiktion, bei der echte menschliche Verbindung instrumentalisiert wird für schnellere Handlungsfähigkeit. Man verkauft zwischenmenschliche Qualitäten als Effizienzfaktor und wundert sich dann, wenn die Leute ausgebrannt am Wegesrand liegen. Das Rückgrat der Organisation besteht angeblich aus Vertrauen – in Wahrheit aus Abhängigkeit und Funktionslogik.

Und dann diese Zielrhetorik. Alle sollen dasselbe wollen, alle sollen mitziehen, alle sollen die Richtung kennen – das klingt nach Partizipation, meint aber Gleichschaltung. Der Unterschied zwischen geteilter Vision und oktroyierter Mission liegt in einer Frage: Wer hat das Ziel definiert? In hierarchischen Systemen wird Konsens meist von oben verordnet. Das kollektive Ziehen am gleichen Strang ist dann eine euphemistische Umschreibung für: Widerspruch zwecklos.

VIII. Die Selbstregulierung des Systems

Was Militär und Wirtschaft perfektioniert haben: Menschen glauben zu lassen, sie würden selbstbestimmt handeln, während sie fremden Imperativen folgen. Das Pentagon nennt es Drill, die Konzerne Leadership Development – zwei Namen für dieselbe Unterwerfungslogik. Die Wirtschaft hat vom Militär gelernt, dass Leute am effektivsten funktionieren, wenn man ihnen Sinnstiftung vorgaukelt bei gleichzeitiger Entkernung jeder echten Autonomie.

Kritiker des militärisch-industriellen Komplexes werden gerne als Verschwörungstheoretiker abgetan – als würden sie Schattenregierungen und geheime Zirkel vermuten, wo doch alles transparent abläuft. James Ledbetter nannte den Begriff einen „rhetorischen Rorschachtest“, in den jeder hineininterpretiert, was er sehen will. Das mag stimmen, entlastet aber niemanden. Die Verflechtung, die Eisenhower beschrieb, operiert durch strukturelle Anreize, durch sich selbst verstärkende Profitmechanismen, durch das stillschweigende Einvernehmen derer, die vom Status quo profitieren.

Der Diplomat George F. Kennan formulierte 1987 eine provokante These: Sollte die Sowjetunion morgen in den Gewässern des Ozeans versinken, müsste der amerikanische militärisch-industrielle Komplex im Wesentlichen unverändert bleiben, bis ein anderer Gegner erfunden wird. Diese Aussage antizipiert die Selbsterhaltungsmechanik des Gefüges – unabhängig von konkreten Bedrohungsszenarien. Das Gebilde perpetuiert sich selbst, weil es in seinem Funktionieren Interessen erzeugt, die auf seine Fortsetzung angewiesen sind.

IX. Epilog: Die größere Perversion

Im Wirtschaftskrieg stirbt niemand – höchstens die Existenz, die Karriere, die Würde. Diese Behauptung gilt allerdings nur für die Metropolen. In den Produktionszonen des globalen Südens sieht die Rechnung anders aus: Einsturzgefährdete Textilfabriken in Bangladesch, Kobaltminen im Kongo, Elektronikmontage unter Bedingungen, die mit „prekär“ euphemistisch umschrieben wären. Die International Labour Organization beziffert die jährlichen Toten durch Arbeitsunfälle und berufsbedingte Krankheiten auf 2,78 Millionen – eine Zahl, die in den Quartalsberichten der Konzerne als „Lieferkettenoptimierung“ erscheint, sofern sie überhaupt auftaucht.

Aber vielleicht liegt genau darin die größere Perversion: dass ein Ordnungsprinzip, das ursprünglich für Extremsituationen konzipiert wurde, heute als Blaupause für den Alltag dient. Als wäre friedliche Kooperation zu kompliziert, zu unpräzise, zu wenig durchhierarchisiert. Als bräuchte man Kommandostrukturen, um Zahnpasta zu verkaufen oder Apps zu entwickeln.

Man könnte auch einfach miteinander reden, könnte Organisationen entwerfen, die auf Vertrauen statt auf Kontrolle setzen, die Fehler als Lernchance begreifen statt als Versagen, die Menschen als Zweck behandeln statt als Mittel. Aber das wäre wohl zu wenig leadership-tauglich, zu wenig skalierbar, zu wenig kompatibel mit Quartalsberichten und Shareholder Value.

Dass es anders ginge, zeigen die Ränder des Systems – Genossenschaftsmodelle wie Mondragón, wo 80.000 Beschäftigte ihre Unternehmen selbst besitzen und verwalten, oder Buurtzorg in den Niederlanden, wo Pflegeteams ohne mittleres Management auskommen und bessere Ergebnisse liefern als hierarchisch organisierte Konkurrenz. Auch das brasilianische Semco, wo Mitarbeiter ihre Gehälter selbst festlegen und Führungskräfte von den Geführten gewählt werden, funktioniert seit Jahrzehnten profitabel.

Die deutsche Variante dieser Experimente kommt unspektakulärer daher, wurzelt aber tiefer. Das Café Klatsch in Wiesbaden, 1984 gegründet im Umfeld der Startbahn-West-Proteste, wurde nach über vierzig Jahren im Juni 2025 geschlossen – Personalsorgen, sinkende Umsätze, ein Gefüge, das dem eigenen Anspruch an solidarische Arbeit nicht mehr gerecht wurde. Die Geschichte endet hier nicht: Eine Gruppe gründet eine Genossenschaft, versucht den Neustart, sammelt Geld für Renovierung und Wiedereröffnung. Ob es gelingt, ist offen. Bis dahin steht das Klatsch als Lehrstück da – für das, was funktionieren kann, und für die Grenzen, an die Alternativen im Kapitalismus stoßen.

Die Welle der Kollektivgründungen in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren – Kneipen, Druckereien, Buchläden, Werkstätten – ist weitgehend verschwunden. Schätzungen gehen davon aus, dass 80 bis 90 Prozent dieser Betriebe entweder geschlossen haben oder inzwischen hierarchisch organisiert sind. Das Klatsch bildete eine Ausnahme: vier Jahrzehnte Überleben durch hohe Fluktuation – etwa 180 Menschen durchliefen das Kollektiv, brachten neue Ideen, ohne die Grundprinzipien zu zerstören. Entscheidungen im Konsens, wöchentliches Plenum, kein Chef. Als 2015 der Verkauf der Räume drohte, sammelte das Netzwerk binnen kürzester Zeit 300.000 Euro Kredit – praktische Solidarität statt Theorie.

Rolf Schwendter hatte das strukturelle Problem schon 1975 benannt: „Ein strukturelles Prinzip der alternativen Ökonomie ist das der Selbstausbeutung.“ Ein Mitglied eines Frankfurter Druckkollektivs klagte damals in der Zeitschrift Pflasterstrand: „Ich habe in zwei Jahren mehr gearbeitet dort, als in drei Jahren in der Fabrik. Ist das alternativ?“ Die Antwort fiel unterschiedlich aus – manche Kollektive verwandelten sich in gewöhnliche Unternehmen, wo Leistungsträger zu neuen Chefs wurden, andere hielten die gemeinsame Eigentümerschaft aufrecht, verabschiedeten sich aber von den radikalen Anfangsprinzipien.

Radikaler noch als die westdeutschen Kollektivbetriebe sind die rückeroberten Fabriken, die der Politikwissenschaftler Dario Azzellini seit Jahren dokumentiert – Betriebe, die von ihren Belegschaften nach Konkursen oder Schließungen besetzt und in Kooperativen umgewandelt wurden. Vio.Me in Thessaloniki, seit 2011 von Arbeiter:innen besetzt und als Kooperative geführt, nachdem die Eigentümer das Unternehmen hatten verfallen lassen. RiMaflow bei Mailand, wo die Belegschaft eine stillgelegte Fabrik übernahm, jetzt Elektronikschrott recycelt, Bio-Liköre herstellt und allen 22 Beschäftigten denselben Lohn zahlt – 1.500 Euro netto, Versammlungsdemokratie statt Vorstandsetage. Scop-Ti im südfranzösischen Gémenos: drei Jahre Besetzung gegen Unilever, bis die Arbeiter:innen die Fabrik und die Traditionsmarke übernahmen, die Produktion auf Öko-Tees umstellten und heute profitabel wirtschaften. In Venezuela versuchten nach 1998 Arbeiter:innen in Staatsbetrieben – Aluminiumhütten, Textil-, Kakao-, Papierfabriken – neue Produktionsverhältnisse zu etablieren, stellten die Frage: „Wie macht ein Unternehmen im Rahmen des Kapitalismus Druck in Richtung Sozialismus?“

Azzellini romantisiert das nicht. Er beschreibt Scheitern, interne Konflikte, Marktdruck – der Pharmabetrieb Jugoremdija in Serbien scheiterte an internen Spannungen und fehlenden Krediten, bei Kazova Tekstil in Istanbul eskalierten ideologische Kämpfe. Die rückeroberten Betriebe können ihre Beziehungen zum Markt und Staat nicht auflösen, der Markt übernimmt teilweise die Rolle der früheren Fabrikbesitzer und gibt den Takt vor. Trotzdem liefern diese Organisationen den empirischen Beleg für etwas, das ideologisch als unmöglich gilt: Kooperation kann produktiver sein als Kommandoketten, Autonomie effizienter als Kontrolle. Sie bleiben Randphänomene, Laborversuche in einer Welt, die anders funktioniert – Kuriositäten mit Hinweischarakter darauf, welche Organisationsformen möglich wären, würde man die militärische Blaupause endlich entsorgen.

Das Zentrum entwickelt derweil seine eigene Konsequenz. Die Neunzigerjahre hatten Performance-Management-Systeme etabliert – softwaregestützte Erfassung individueller Leistung, Key Performance Indicators, Zielvereinbarungen als digitale Datenströme, der erste Schritt zur algorithmischen Durchdringung der Arbeit. Was damals noch Datenbanken und Tabellenkalkulationen brauchte, findet seine Vollendung im Plattformkapitalismus. Amazon, Uber, Deliveroo zeigen, was passiert, wenn kybernetische Steuerung auf algorithmische Kontrolle trifft. Jeder Handgriff getrackt, jede Pause bewertet, Gamification als Anreizsystem. Das ist RAND-Optimierung in Echtzeit, Taylor mit künstlicher Intelligenz, die preußische Kadenz als Algorithmus. Die Fahrer glauben, sie seien selbstständig, während das Gefüge jeden Schritt vorgibt, jede Route berechnet, jede Abweichung sanktioniert. Höhns Delegation von Verantwortung bei totaler Kontrolle, nur eben mit GPS statt Stellenbeschreibung, mit Rating-Systemen statt Mitarbeitergesprächen. Die Plattform definiert die Mission, der „Partner“ optimiert sich selbst – oder verschwindet aus dem Apparat, ausselektiert durch Algorithmen, die ihre Kriterien nicht offenlegen müssen.

Die genealogische Linie, die von der Wehrmacht über Reinhard Höhns Harzburger Modell bis in heutige Management-Handbücher führt, ist keine direkte Kausalität. Keine durchgehende Verschwörung, kein Masterplan, keine heimliche Agenda. Stattdessen: strukturelle Affinitäten, konzeptionelle Überschneidungen, verstörende Anschlussfähigkeit zwischen Ordnungen, die angeblich fundamental verschieden sein sollten.

Welche Denkmuster, welche Organisationsprinzipien, welche Menschenbilder haben sich so erfolgreich durch politische Brüche hindurch reproduziert? Vielleicht wäre es Zeit, diese Muster zu durchbrechen – statt sie, wie bisher, immer nur umzubenennen.

Literaturhinweise:

  • C. Wright Mills: The Power Elite (1956)
  • Dwight D. Eisenhower: Farewell Address (1961), National Archives
  • James Ledbetter: Unwarranted Influence: Dwight D. Eisenhower and the Military-Industrial Complex (2011)
  • Dieter H. Kollmer (Hrsg.): Militärisch-Industrieller Komplex? Rüstung in Europa und Nordamerika nach dem Zweiten Weltkrieg (2015)
  • Johann Chapoutot: Gehorsam macht frei. Eine kurze Geschichte des Managements – von Hitler bis heute (2021)
  • Michael Wildt: „Der Fall Reinhard Höhn. Vom Reichssicherheitshauptamt zur Harzburger Akademie“, in: Gallus/Schildt (Hrsg.): Rückblickend in die Zukunft (2011)
  • Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit (1996)
    Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989 (1996)
  • Matthias Molt: Von der Wehrmacht zur Bundeswehr. Personelle Kontinuität und Diskontinuität beim Aufbau der Deutschen Streitkräfte 1955-1966 (Dissertation, Universität Heidelberg, 2007)
  • Detlef Bald: Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955–2005 (2005)
  • Frederick Winslow Taylor: The Principles of Scientific Management (1911)
  • Harry Braverman: Labor and Monopoly Capital. The Degradation of Work in the Twentieth Century (1974)
  • Antonio Gramsci: Gefängnishefte – Abschnitte zu Fordismus/Amerikanismus
  • Angelika Ebbinghaus: Arbeiter und Arbeitswissenschaft: Zur Entstehung der „wissenschaftlichen Betriebsführung“ (1984)
  • Nick Robins: The Corporation That Changed the World: How the East India Company Shaped the Modern Multinational (2006)
  • Sven Beckert: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus (2014)
  • Adam Tooze: The Wages of Destruction (2006)
  • Norbert Wiener: Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine (1948)
  • Paul Edwards: The Closed World: Computers and the Politics of Discourse in Cold War America (1996)
  • Frederic Vester: Neuland des Denkens. Vom technokratischen zum kybernetischen Zeitalter (1980)
  • Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung (2000)
  • Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I (1978/79)
  • Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975)
  • Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform (2007)
  • Friedrich August von Hayek: Der Weg zur Knechtschaft (1944)
  • Philip Mirowski / Dieter Plehwe (Hrsg.): The Road from Mont Pèlerin: The Making of the Neoliberal Thought Collective (2009)
  • Wolfgang Seibel: Verwaltete Illusionen. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt (2005)
  • Marcus Böick: Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994 (2018)
  • Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart (2004)
  • Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft (2010)
  • Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (2005)
  • Dario Azzellini: Vom Protest zum sozialen Prozess. Betriebsbesetzungen und Arbeiten in Selbstverwaltung (2018)
  • Dario Azzellini (Hrsg.): Mehr als Arbeitskampf! Klasse, Geschlecht, race und die neue Welle der Streiks in den USA (2022)
  • Dario Azzellini: The Class Strikes Back: Self-Organised Workers Struggles in the Twenty-First Century (2019)
  • Jannek Ramm: Mikrotopia. Das Café Klatsch als Alltagsbeispiel sozialer Bewegungen (2024)
  • Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren (2014)
  • Klaus Novy: Anders Leben. Geschichte und Zukunft der Genossenschaftskultur (1985)
  • Burghard Flieger: Gemeinsam mehr erreichen. Kooperation und Vernetzung alternativökonomischer Betriebe und Projekte (1995)
  • Rolf Schwendter: Zur Geschichte der Alternativökonomie (diverse Aufsätze 1970er-1980er Jahre)
  • Nick Srnicek: Plattform-Kapitalismus (2017)
  • Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (2018)
  • Florian Reichenberger: Der gedachte Krieg (2018)