Als Robert Musil 1930 seinen Mann ohne Eigenschaften veröffentlichte, beschrieb er eine Gesellschaft am Vorabend der Katastrophe. Heute leben wir in ihr.
Jeden Morgen treten irgendwo CEOs vor Kameras und verkünden ihre Purpose-Statements. Net Zero bis 2050. Diversity als Unternehmenswert. Stakeholder-Kapitalismus. Die Worte wechseln, die Geste bleibt: Man sucht nach der großen vereinigenden Idee, die dem Unternehmen, der Wirtschaft, der ganzen verdammten Moderne wieder Sinn verleiht.
Musils Diotima, diese Salonière der Wiener Gesellschaft, die verzweifelt nach „Idealen“ jagte, würde heute LinkedIn-Posts verfassen über transformative Leadership. Sie säße auf Panels, diskutierte über „Purpose beyond Profit“, während die eigentlichen Deals hinter verschlossenen Türen laufen. Die Parallelaktion – diese groteske Vorbereitung eines Thronjubiläums, das nie stattfinden sollte – heißt heute ESG-Konferenz, Sustainability Summit, Davos.
Alle Beteiligten wissen, dass es Theater ist. Musil hatte dafür seinen Begriff der „konstruktiven Ironie“ – eine Darstellungsweise, die im Angriff auf eine Position zugleich ihr scheinbares Gegenteil trifft, weil beide derselben hohlen Logik folgen. Heute zeigt sich das anders: Man formuliert Nachhaltigkeitsziele, die Quartalserwartungen bedienen. Man preist Diversität an, die Führungsetage bleibt homogen. Man spricht von Transformation, meint Anpassung. Die Ironie liegt nicht im Stil, sondern in der Struktur – im Wissen aller, dass die großen Worte das System stabilisieren, das sie angeblich verändern sollen.
Paul Arnheim, der preußisch-jüdische Großindustrielle bei Musil, verkörpert den Typus des kultivierten Kapitalisten – ein Mann, der zwischen Vorstandssitzungen Platon liest und Ölfelder kauft, der von höheren Werten spricht und Renditen kalkuliert. Musil konstruierte diese Figur als Symptom einer Epoche, die ihre inneren Widersprüche erträgt, indem sie sie rhetorisch versöhnt.
Die heutigen Arnheims flanieren zwischen TED-Talks und Boardrooms, predigen Humanismus, praktizieren Shareholder-Value-Maximierung. Sie lesen Heidegger, investieren in Rüstungstechnologie. Das Bemerkenswerte: Sie meinen es ernst. Die Spaltung verläuft mitten durch das Subjekt.
Arnheims Kern ist eine fundamentale Unehrlichkeit, die sich als höchste Aufrichtigkeit tarnt. Der Mann glaubt wirklich an die Harmonisierung von Geist und Kapital – dieser Glaube macht ihn zum Komplizen der kommenden Barbarei. Während Arnheim von Synthese träumt, verschärfen sich draußen die Gegensätze bis zur Kriegsbereitschaft.
Die zeitgenössische Variante folgt demselben Muster: Impact-Investoren, überzeugt davon, mit Risikokapital die Welt zu retten. Tech-Milliardäre, die Armut durch Innovation bekämpfen wollen, deren Geschäftsmodelle aber Ungleichheit produzieren. Das Problem liegt tiefer als Heuchelei – es ist strukturelle Selbsttäuschung, die das System am Laufen hält, weil sie so aufrichtig wirkt.
Ulrich, Musils Protagonist, ist Mathematiker, Philosoph, gescheiterter Offizier – ein hochbegabter Mann, dem „die Möglichkeit der Anwendung abhanden gekommen“ ist. Er sieht alle Eigenschaften in sich, kann sich zu keiner bekennen. Darum nimmt er „Urlaub vom Leben“, geht in permanenten Wartemodus.
Das ist längst zur Norm geworden. Der flexible Mensch der Spätmoderne existiert in dauerhafter Eigenschaftslosigkeit. Man bleibt anpassungsfähig, hält sich Optionen offen, committed sich zu nichts Endgültigem. Karriereberater nennen das Resilienz. Musil nannte es das Ende des Menschen.
Die Unternehmenskultur hat dieses Prinzip institutionalisiert. Agile Strukturen: keine verbindlichen Rollen. New Work: keine festen Zugehörigkeiten. Lean Management: Identifikation mit dem Job wird irrational. Der eigenschaftslose Mensch als Ideal, weil er reibungslos funktioniert. Er passt sich jedem Kontext an, hat keinen Kern, der Widerstand leisten könnte.
Was bei Musil als existenzielle Krise erscheint, wurde zum Erfolgsmodell der Gegenwart. Die Figur Trump führt das auf die Spitze. Seine Prinzipienlosigkeit, seine Fähigkeit, jeden Standpunkt einzunehmen und sofort wieder fallen zu lassen – radikale Eigenschaftslosigkeit als Machtinstrument. Er funktioniert wie ein konsequenter Spätkapitalist: total flexibel, komplett opportunistisch, frei von jedem Wesenskern. Bei ihm ist die Maske gefallen. Marx analysierte diesen Typus bereits 1851 am Louis Bonaparte – der Mann ohne Eigenschaften als Machtfigur, der alle Widersprüche seiner Epoche verkörpert, gerade weil er keine eigene Substanz hat. Was damals Farce war, ist heute System. Trump zeigt offen, was das System von allen verlangt.
Musils zentrale These: Die Rationalisierung der Welt führt paradoxerweise ins Irrationale. Wenn alles messbar, planbar, optimierbar wird, verliert das Leben seinen Zusammenhang. Die Verantwortung liegt „nicht mehr im Menschen, sondern in den Sachzusammenhängen“. Erlebnisse machen sich selbstständig, Subjekte werden zu Durchlaufstellen fremder Prozesse – bewegt von Kräften, die sie nicht mehr verstehen.
Das beschreibt unsere Situation präziser als jede soziologische Analyse. Algorithmen treffen Entscheidungen, KI-Systeme generieren Inhalte, Märkte reagieren in Millisekunden. Der Mensch schaut seinen eigenen Handlungen zu. Diese Entmachtung geschieht im Namen von Effizienz, Optimierung, Rationalität.
Der Umschlag kommt, wenn diese durchrationalisierte Welt keine Bedeutung mehr stiftet. Musil sah 1914, wie gebildete Europäer plötzlich in nationale Raserei verfielen – als hätte sich alles Verdrängte auf einmal entladen. Die rationale Fassade zerbrach, darunter kam blanke Gewalt zum Vorschein.
Heute wiederholt sich die Struktur. Eine Gesellschaft, die jahrzehntelang auf Flexibilität, Marktlogik, Eigenschaftslosigkeit setzte, produziert den autoritären Gegenschlag. Menschen, die in fluiden Strukturen keinen Halt mehr finden, suchen verzweifelt nach Identität – selbst wenn sie faschistisch ist. Was Musil als Vorahnung beschrieb, erleben wir als Gegenwart: Rationalität ohne Sinn mündet in irrationale Gewalt.
In Musils Roman gibt es eine Figur, die alle anderen verstört: Moosbrugger, ein Lustmörder, der eine Prostituierte umgebracht hat. Die Wiener Gesellschaft diskutiert seinen Fall obsessiv. Man fragt sich, ob er zurechnungsfähig ist, wo seine Schuld liegt, wie man ihn einordnen soll. Die Intellektuellen sind fasziniert – er repräsentiert eine rohe Authentizität, die ihnen verloren gegangen ist.
Ulrich erkennt: Moosbrugger ist kein Ausreißer, sondern notwendiges Produkt der Zivilisation. Die Gewalt des Mörders ist keine Abweichung, sondern Ausdruck dessen, was die Gesellschaft verdrängt. Moosbrugger lebt die Triebe aus, die alle anderen rationalisieren müssen. Er ist das Reale, das durch die symbolische Ordnung hindurchbricht.
Die heutigen Moosbruggers heißen Incels, QAnon-Gläubige, Attentäter mit Manifesten. Die Gesellschaft beobachtet sie mit derselben ambivalenten Faszination. Man analysiert ihre Psychologie, ihre Radikalisierungswege, ihre Weltbilder – als könnte man durch Verstehen das Problem lösen. Die Wahrheit liegt tiefer: Diese Figuren sind Symptome eines Systems, das Gewalt produziert, während es von Harmonie spricht.
Musil erkannte: Die rationale Gesellschaft braucht ihre Ausgeschlossenen, ihre Monster, ihre Sündenböcke. Sie projiziert auf sie, was sie an sich selbst nicht wahrhaben will. Moosbrugger wird zum Faszinosum, weil er die Lüge der Zivilisation entlarvt.
Musils Roman bleibt Fragment. Er fand kein Ende, konnte keins finden. Die letzte große Hoffnung – die „andere Zustandsform“, ein mystischer Ausweg aus der Moderne – versandet in Entwürfen. Ulrich und seine Schwester Agathe versuchen einen inzestuösen Utopismus, der nirgendwo hinführt.
Das ist die ehrliche Antwort: Es gibt keinen Ausweg innerhalb des Systems. Weder eigenschaftslose Flexibilität noch autoritäre Regression bieten Lösungen. Die Parallelaktion läuft ins Leere, Arnheims Versöhnungsrhetorik verschlimmert die Lage, Ulrichs Möglichkeitssinn endet in Handlungsunfähigkeit.
Musils Diagnose gilt heute verschärft: Eine Gesellschaft, die auf Eigenschaftslosigkeit setzt, produziert den Wunsch nach harten Identitäten. Ein Wirtschaftssystem, das alle Bindungen auflöst, erzeugt Sehnsucht nach absoluter Zugehörigkeit. Rationalität, die jeden Sinn ausradiert, mündet in irrationale Gewalt.
Die verstörende Erkenntnis: Die Unternehmenskultur der Eigenschaftslosigkeit produziert nicht den Faschismus, aber die Subjekte, die für ihn empfänglich werden. Wenn alles flüssig wird, wünschen sich Menschen Beton. Fehlen Wahrheiten, werden beliebige Lügen zur Orientierung. Die Wirtschaftseliten bereiten den Boden nicht aus Überzeugung, sondern aus Kalkül – und werden dann zu Komplizen dessen, was sie nie wollten. Musil sah das 1913: Während die Arnheims von Versöhnung träumen, organisiert sich draußen die Gewalt.
Musil schrieb seinen Roman als Warnung vor dem Ersten Weltkrieg, veröffentlicht zwischen den Weltkriegen. Wir lesen ihn heute vor dem nächsten Zusammenbruch. Die Parallelaktion läuft weiter. Niemand weiß, was gefeiert werden soll. Alle ahnen, dass es schiefgeht.
Der eigenschaftslose CEO verkündet sein nächstes Purpose-Statement. Draußen verschärfen sich die Widersprüche. Moosbrugger wartet auf seinen Auftritt.
Robert Musil starb 1942 in Genf, verarmt und vergessen. Sein Roman blieb unvollendet. Er hinterließ 12.000 Seiten Notizen – Entwürfe für ein Ende, das er nicht finden konnte. Vielleicht weil es keins gibt.