Stellen wir uns vor, sie existierte wirklich: die perfekte Führungspersona, wie sie den Hochglanzbroschüren der Weiterbildungsbranche entsprungen sein könnte. Morgens um fünf aufgestanden – selbstverständlich nach einer achtsamen Meditation und dem obligatorischen Power-Smoothie –, beginnt sie den Tag mit einem inspirierten TED-Talk-Format für ihr diverses Team. Ihre Körpersprache: makellos. Der Blickkontakt: präzise dosiert zwischen Empathie und Autorität. Die Gesichtsausdrücke: unter Kontrolle, authentisch genug, um vertrauenswürdig zu wirken, kontrolliert genug, um keine unerwünschten Emotionen durchsickern zu lassen.
Sie verwandelt, während sie kommuniziert. Inspiriert, während sie delegiert. Coacht individuell – selbstverständlich unter Berücksichtigung kultureller Hintergründe, neurodivergenter Perspektiven und unterschiedlicher Biografien –, während sie strategisch denkt. Ihr emotionaler Intelligenzquotient liegt naturgemäß im obersten Zehntel, ihre Widerstandskraft steht bombenfest, ihre Wandlungskompetenzen sind durchweg im grünen Bereich validiert. Sie praktiziert situative Führung, dienende Führung, agile Facilitierung – je nachdem, was die Situation erfordert, wechselt sie mühelos zwischen den Modellen.
In Meetings hört sie aktiv zu, achtet auf psychologische Sicherheit im Raum, gibt allen Stimmen Gehör – unabhängig von Hierarchie, Herkunft oder Gewohnheit. Ihr Outlook-Kalender: ein Tetris-Spiel aus Einzel-Coachings, Strategiesessions, Abstimmungsrunden, Transformations-Workshops, Diversitäts-Roundtables. Ihre To-Do-Liste: episch. Ihr Energielevel: unerschöpflich. Ihre Burnout-Gefahr: durch präventive Trainings minimiert.
Sie ist die wandelnde Synthese aller Leadership-Konzepte der letzten dreißig Jahre, die personifizierte Antwort auf jeden Anforderungskatalog, das lebende Beweisexemplar dafür, dass der moderne Mensch mehrere widersprüchliche Rollen gleichzeitig verkörpern kann, solange er ausreichend optimiert ist.
Sie existiert, wohlgemerkt, ausschließlich in den Fieberträumen der Coaching-Industrie. In der Realität existiert lediglich ihr permanentes Scheitern an diesem Ideal – und genau darin liegt das Geschäftsmodell.
Die zeitgenössische Führungskraft existiert in einem Zustand permanenter Selbstüberforderung, der sich als Kompetenzentwicklung tarnt. Was die Ratgeberliteratur als Leadership-Excellence verkauft, entpuppt sich als konzertierter Angriff auf die psychische Substanz des Management-Subjekts. Der Optimierungskomplex hat einen Anforderungskatalog entwickelt, dessen Erfüllung strukturell ausgeschlossen bleibt – gerade darin liegt seine bemerkenswerte Funktionalität.
Die Zumutung im Detail: Die Führungspersona soll emotional intelligent agieren nach Golemans fünf Kompetenzen, verwandelnd wirken gemäß Bass‘ vier I’s, authentisch bleiben laut validiertem Fragebogen, widerstandsfähig durchhalten nach sieben Säulen innerer Stärke. Dazu rhetorische Brillanz in aristotelischer Tradition, fehlerfreie Körpersprache nach Mehrabian, kontrollierte Mikroausdrücke à la Ekman. Achtsamkeit als Grundhaltung, Empathie als Kerntechnik, visionäre Inspiration bei gleichzeitiger Durchsetzungsstärke.
Der Kanon dieser Anforderungen stammt aus den 1980er und 1990er Jahren – Bass‘ transformationale Führung (1985), Golemans emotionale Intelligenz (1995) –, also aus einer Epoche, die heute wie ein fernes Management-Pleistozän wirkt. Diese Konzepte haben sich als Klassiker der Branche etabliert, werden zitiert, gelehrt, zertifiziert. Die Forschung hat längst Risse aufgezeigt – Golemans Mischmodell gilt als wissenschaftlich fragwürdig, Bass‘ Konstrukt als theoretisch überladen –, doch das stört die Wirkung kaum. Der Optimierungskomplex speist sich aus diesen Quellen wie aus einem unversiegbaren Brunnen.
Was fehlt: die systemisch-kybernetischen Ansätze eines Fredmund Malik, der Führung als erlernbares Handwerk begreift, als Resultate-Erzeugung durch klare Aufgaben, Prinzipien, Werkzeuge. Malik räumt mit psychologisierender Selbstdarstellung auf, konzentriert sich auf Wirksamkeit statt auf Wirkung, auf Strukturen statt auf Persönlichkeiten. Seine sechs Grundsätze – Resultatorientierung, Beitrag zum Ganzen, Konzentration aufs Wesentliche, Stärken nutzen, Vertrauen, positives Denken – versprechen Entlastung durch Vereinfachung. Doch auch dieser Ansatz verschleiert die Machtfrage hinter kybernetischer Neutralität. Die technokratische Eleganz kaschiert, dass hier Steuerung optimiert wird, während die strukturellen Zwänge unangetastet bleiben. Malik als Anti-Goleman? Eher als komplementäres Rädchen im selben Getriebe.
Diese Häufung erzeugt eine eigentümliche Verdopplung jeder Interaktion. Das Gespräch spaltet sich auf in Geschehen und gleichzeitige reflexive Bewertung nach verinnerlichten Normen. Die Führungsperson konstituiert sich als eigener Aufseher, als fortwährende Instanz der Selbstkorrektur. Jede Geste, jeder Satz, jede Regung wird noch im Vollzug an den Anforderungskatalogen abgeglichen – ein permanentes Selbst-Audit.
Parallel dazu formiert sich auf der anderen Seite ein Erwartungshorizont, der die Überforderung potenziert. Die Mitarbeitenden haben längst ihr eigenes Idealbild verinnerlicht – gespeist aus TED-Talks, LinkedIn-Influencern, Management-Podcasts, Business-School-Narrativen. Dieses medial kuratierte Führungsideal projizieren sie auf die reale Person vor sich, die gerade versucht, den nächsten Termin vorzubereiten, während drei Slack-Channels blinken und die Budget-Deadline näher rückt. Die Schere zwischen Erwartung und Wirklichkeit wird zur Sollbruchstelle der Beziehung.
Man soll das wahre Selbst zeigen, allerdings ausschließlich jene Facetten, die den vier wissenschaftlich validierten Dimensionen entsprechen: Selbstkenntnis, transparente Beziehungsgestaltung, verinnerlichte Moral, ausgewogene Informationsverarbeitung. Authentizität mutiert zum Technikum, zur trainierbaren Kompetenz mit zugehörigem Messinstrument. Das Deutsche Inventar Authentischer Führung verspricht in sechzehn Items zu erfassen, was eigentlich das Unverfügbare markieren sollte.
Die Aufgabe: spontan wirken nach Drehbuch, echt erscheinen nach Handbuch. Jede dieser Anforderungen trägt ihren Widerspruch bereits in sich. Die Langzeitstudie mit 1.835 Mitarbeitenden über zwanzig Monate bestätigt zwar Wirksamkeit – die Frage bleibt: wessen Wirksamkeit? Die der organisierten Selbstverleugnung möglicherweise.
Die Resilienzliteratur liest sich als Bedienungsanleitung zur Selbstausbeutung unter Dauerstress. Sieben Säulen, zahlreiche Trainings, unzählige Coachings gegen Burnout – die strukturellen Ursachen der Überlastung bleiben außerhalb jeder kritischen Reflexion. Die Metaanalyse mit 16.348 Teilnehmenden aus 37 Primärstudien weist nach: dreißig Prozent weniger stressbedingte Erkrankungen, vierzig Prozent weniger Burnout-Symptome. Was wird da gemessen? Die Fähigkeit, länger zu funktionieren. Die Kompetenz, den eigenen Kollaps hinauszuzögern.
Widerstandskraft als Begriff verschleiert, dass hier Anpassungsleistungen an krankmachende Verhältnisse optimiert werden. Geringerer Druck? Fehlanzeige. Besser damit umgehen – das ist die Devise. Teams in widerstandsfähigen Kulturen zeigen bis zu dreißig Prozent höhere Produktivität. Auf Kosten welcher psychischen Substanz? Die Harvard Business Review nennt Resilienz den entscheidenden Faktor für Zukunftsfähigkeit. Oder anders: die entscheidende Ressource für grenzenlose Ausbeutung.
Golemans Versprechen, der EQ übersteige den IQ an Bedeutung, leitete die Kolonialisierung letzter Refugien der Subjektivität ein. Emotionen werden zum bewirtschaftbaren Rohstoff der Produktivität. Die Führungspersona entwickelt ein Verhältnis zu den eigenen Gefühlen, das dem eines Portfoliomanagers zu seinen Assets gleicht: strategisch, kalkuliert, auf Renditemaximierung optimiert.
Die fünf Kompetenzen als Gebrauchsanweisung zur Selbstverdinglichung. Selbstwahrnehmung meint kontinuierliche Erfassung eigener Emotionalität als Datenquelle. Selbstregulierung bezeichnet Unterwerfung spontaner Regungen unter funktionale Erwägungen. Motivation verwandelt innere Antriebe in äußere Leistungsbereitschaft. Empathie wird instrumentalisiert zur raffinierten Beeinflussung. Soziale Kompetenz meint effiziente Verwertung zwischenmenschlicher Beziehungen.
Die Kritik (Sieben 2007, Rost 2009) spricht von „wissenschaftlichen Sprachspielen“ und „Konglomeraten“. Golemans Mischmodell vermischt Persönlichkeitsmerkmale mit geistigen Fähigkeiten – wissenschaftlich fragwürdig. Die Wirkmächtigkeit des Konzepts basiert gerade auf dieser Unschärfe, die jede Lebensregung unter das Diktat der Optimierung stellt.
Bass‘ vier I’s – Idealized Influence, Inspirational Motivation, Intellectual Stimulation, Individualized Consideration – formulieren einen Anspruch, der dauerhafte Unzulänglichkeit erzeugt. Vorbild sein (bei fortwährendem Scheitern?), inspirieren (bei zunehmender Erschöpfung?), intellektuell anregen (während Zeit zur eigenen Reflexion fehlt), individuell fördern (bei achtzig Mitarbeitenden?).
Die Metaanalysen bestätigen: höhere Arbeitszufriedenheit, mehr Bindung, bessere Leistung – auf Seiten der Geführten. Über die psychische Verfassung der Führenden schweigen die Studien mit System. Die Gießener Untersuchung mit 14.348 Teilnehmenden validiert das Inventar, misst Korrelationen, weist Effekte nach. Was unsichtbar bleibt: der Preis dieser Verwandlung. Die Führungsperson als Energiewandler, der fremde Motivation erzeugt durch Verbrennung eigener Substanz.
Das Konzept trägt seine Kritik im Namen. Transformation bedeutet Verwandlung – in was verwandelt sich die Führungskraft selbst? In einen Hochleistungsreaktor, dessen Halbwertszeit mit jeder Fusion abnimmt.
Die agilen Frameworks versprechen Befreiung von hierarchischer Starre, liefern neue Rituale der Selbstausbeutung. Daily Standups, Retrospektiven, Sprint Reviews – ein endloser Zyklus der kollektiven Selbstoptimierung. Die Führungskraft mutiert zum Servant Leader, zum Facilitator, zum Agile Coach eines „selbstorganisierten“ Teams, das faktisch jede Woche neue Ziele abliefern muss.
Die Widersprüche türmen sich: Diene, aber führe. Lass los, aber bleib verantwortlich. Ermächtige, aber liefere Resultate. Schaffe psychologische Sicherheit, während der Sprint-Deadline näher rückt. Die Scrum-Zertifizierungen (Scrum Master, Product Owner, SAFe, LeSS) versprechen Kompetenz in der Kunst der Anpassung – das Ergebnis ist ein durchritualisiertes System permanenter Veränderung, das die Erschöpfung beschleunigt, während es Flexibilität verspricht.
Amy Edmondsons Konzept der psychologischen Sicherheit wird zur nächsten Pflicht im Katalog: Die Führungskraft soll einen Raum schaffen, in dem Fehler möglich sind, während gleichzeitig Velocity und Burn-Down-Charts messbar bleiben müssen. Scheitern ist erlaubt – solange es schnell passiert, dokumentiert wird und zum Lernerfolg führt. Das agile Manifest proklamierte einst „Individuen und Interaktionen über Prozesse und Werkzeuge“. Was daraus wurde: Jira-Tickets, Story Points, Velocity-Tracking. Die Befreiung erstarrt zur nächsten Disziplinartechnik.
Das kybernetische Denken, Maliks theoretisches Fundament, reduziert Führung auf Regelkreise: Soll-Ist-Abgleich, Störungskorrektur, Rückkopplung. Die Organisation als selbststeuerndes System – ein eleganter Gedanke aus der Nachrichtentechnik der 1940er Jahre, übertragen auf Menschen. Was bei Thermostaten funktioniert, soll auch bei Mitarbeitenden greifen.
Die Führungskraft wird zur Schnittstelle im Regelkreis, permanenter Sensor und Stellglied zugleich. 360-Grad-Feedback, kontinuierliche Leistungsbeurteilung, OKR-Zyklen – lauter kybernetische Instrumente zur Dauerüberwachung und Echtzeit-Justierung. Die Metapher verschleiert, dass hier keine Maschinen gesteuert werden, sondern Menschen ihre Subjektivität dem Diktat der Rückkopplung unterwerfen.
Die endlose Schleife des Messens, Bewertens, Nachjustierens lässt keine Ruhephase zu. Jede Abweichung vom Sollwert wird registriert, jede Störgröße muss kompensiert werden. Input (Anforderung), Prozess (Leistung), Output (Resultat), Feedback (Bewertung), Anpassung, von vorn. Die technokratische Eleganz des kybernetischen Denkens tarnt die Brutalität eines Systems, das Stillstand als Fehlfunktion interpretiert.
Die Coaching-Industrie verspricht Entlastung, produziert neue Verpflichtungen. Theebooms Metaanalyse mit achtzehn Studien attestiert signifikante Effekte auf Zielerreichung, Leistungskraft, Arbeitseinstellung. Coaching wirkt. Die Frage: worauf eigentlich? Auf die Fähigkeit, unmögliche Anforderungen subjektiv erträglicher zu machen? Auf die Kunst der Selbstüberzeugung, die Überforderung sei gewollt?
Erik de Haan weist auf das Schubladenproblem hin: Studien ohne positive Ergebnisse verschwinden unpubliziert, die gefundene Effektgröße löst sich nahezu auf. Die Evidenz bleibt, wie Hosang formuliert, „klein und prekär“. Systemisches Coaching erreicht zwar Evidenzklasse I durch zehn Metaanalysen – was damit bewiesen wird: die Wirksamkeit der Anpassung an pathogene Strukturen.
Das Input-Process-Outcome-Modell beschreibt sachlich, wie aus Motivation und Qualifikation durch methodische Intervention Zielerreichung wird. Unsichtbar: der Preis dieser Selbstoptimierung. Die systemischen Coaches arbeiten an der „Passung“ zwischen Subjekt und Organisation – Passung als Euphemismus für Anpassung. Die Führungskraft lernt, sich krankmachenden Strukturen geschmeidiger anzuschmiegen.
Die Kolonialisierung des Körpers erscheint besonders bemerkenswert. Körpersprache wird zur Technik, Mimik zum Werkzeug, Gestik zur Methode. Der Körper, traditionell Ort spontaner Ausdruckskraft, wird diszipliniert zum Bedeutungsträger kalkulierter Botschaften. Die Führungskraft beobachtet die eigene Haltung, kontrolliert Mikroausdrücke, justiert nonverbale Signale – während sie gleichzeitig authentisch wirken soll.
Mehrabians Formel – 55% Körpersprache, 38% Stimme, 7% Inhalt – kursiert als Naturgesetz durch die Ratgeberliteratur. Kanning dekonstruiert diese Mythenbildung als methodisch fragwürdige Verallgemeinerung auf Basis schwacher Studien aus den 1970ern. Die Führungsindustrie ignoriert solche Einwände konsequent. Die Aufspaltung der Kommunikation in prozentuale Anteile erlaubt deren separate Optimierung, Training, Messung.
Ekman hat nachgewiesen, dass Mikroausdrücke universelle Emotionen zeigen – binnen Bruchteilen von Sekunden. Die Mimikresonanz-Methode verspricht, diese zu erkennen und anzuwenden. Eine Führungspersona, die ihr eigenes Gesicht überwacht wie ein Sicherheitsdienst die Monitore. Spontanität wird zur kontrollierten Simulation von Spontanität.
Die Häufung dieser Techniken, Modelle, Kompetenzen erfüllt eine Funktion, die über individuelle Überforderung hinausweist. Die permanente Selbstbeschäftigung erzeugt eine Führungspersona, vollständig absorbiert von der Arbeit an sich selbst. Kritik an Strukturen, Reflexion über Machtverhältnisse, Widerstand gegen Ausbeutung – das erfordert Ressourcen, die längst verbraucht sind im endlosen Projekt der Selbstoptimierung.
Das Management-Subjekt stellt keine unbequemen Fragen mehr. Es ist beschäftigt mit emotionaler Intelligenz, verwandelnder Wirkung, authentischer Präsenz. Der Optimierungskomplex hat ein wirksames Ablenkungsmanöver etabliert: Die Ursachen der Überlastung werden unsichtbar, das Subjekt lernt, die Symptome besser zu ertragen.
Führungskräfte haben das Problem erkannt. Eine Sopra-Steria-Studie weist nach: 49 Prozent wollen Resilienz als strategisches Thema forcieren – und verschärfen damit das Problem durch die gewählte Lösung. Resilienz als Antwort auf strukturelle Überforderung funktioniert wie ein Medikament, das Symptome lindert und die Krankheit verschlimmert.
Das System funktioniert gerade durch sein systematisches Verfehlen. Die unerreichbaren Standards erzeugen fortwährende Mangelgefühle, die den Markt für neue Trainings, Coachings, Seminare alimentieren. Die Führungskraft scheitert – muss scheitern, da die Anforderungen strukturell unerfüllbar sind – und investiert daraufhin in weitere Kompetenzentwicklung.
Die wissenschaftliche Validierung durch Metaanalysen und Langzeitstudien verleiht dem Ganzen akademische Weihe. Bertelsmann Stiftung, Harvard Business School, Stanford University – illustre Institutionen legitimieren ein System, das seine Opfer zu Komplizen macht. Die Führungspersona verinnerlicht die Normen so vollständig, dass sie deren Unerfüllbarkeit als individuelles Versagen interpretiert, als persönlichen Entwicklungsbedarf, als Anlass zur weiteren Selbstoptimierung.
Die Coaching-Kosten steigen, die Burnout-Raten steigen, die Erschöpfung steigt – parallel zur Anzahl der Trainingsangebote, Zertifikate, Kompetenzkataloge. Ein perpetuum mobile der organisierten Selbstzerstörung, maskiert als Entwicklungschance.
Die Ratgeberliteratur schweigt über Macht mit Konsequenz. Verwandelnde Führung, emotionale Intelligenz, authentische Präsenz – lauter Konzepte, die suggerieren, Führung sei eine Frage der richtigen Technik. Die machtpolitischen Realitäten organisationaler Kämpfe, die strukturellen Machtverhältnisse, die ökonomischen Zwänge kapitalistischer Verwertung – das verschwindet hinter psychologisierender Selbstmanagement-Rhetorik.
Die Erkenntnis liegt offen zutage: Coaching dient dem Machterhalt. Die Führungskraft verfügt über Macht ausschließlich in dem Maße, wie Unterstellte bereit sind, diese anzuerkennen. Die permanente Angst vor Machtverlust treibt die endlose Selbstoptimierung an. Die Techniken emotionaler Intelligenz erscheinen als Instrumente zur Befriedung dieser Angst – als wäre ausreichende Kompetenz das Heilmittel gegen strukturelle Unsicherheit.
Die Neue Hamburger Schule verspricht Wahrnehmungserweiterung, erweiterte Handlungsalternativen, gesicherte Entscheidungsfähigkeit. Was sie liefert: Werkzeuge zur raffinierten Manipulation, getarnt als Gesprächsführung. Die Mehrdeutigkeit dieses Zwischenraums auszuhalten, erfordert weniger Gelassenheit als vielmehr Zynismus.
Das gesamte Gebäude der Führungstechniken basiert auf einer fundamentalen Annahme: Soziale Prozesse seien kontrollierbar durch individuelle Kompetenz. Lerne die richtigen Methoden, entwickle die passenden Haltungen – und Führung gelingt. Diese Illusion verschleiert die Zufälligkeit sozialer Wirklichkeit, die Eigendynamik organisationaler Prozesse, die Widerspenstigkeit menschlicher Interaktion.
Die validierten Messinstrumente – MLQ, MSCEIT, DIAF, GITF – versprechen, das Unmessbare messbar zu machen. Verwandelnde Führung in 32 Items, emotionale Intelligenz in 140 Fragen, Authentizität in 16 Statements. Die Quantifizierung suggeriert Präzision, wo grobe Vereinfachung stattfindet. Die Führungspersona orientiert sich an Messinstrumenten statt an der erlebten Komplexität ihrer Praxis.
Die bestätigenden Faktorenanalysen bestätigen die vierfaktorielle Struktur des DIAF in drei Stichproben mit insgesamt 705 Teilnehmenden. Die interne Konsistenz liegt im guten bis sehr guten Bereich. Was hier validiert wird: ein Konstrukt, das Authentizität zur messbaren Variable degradiert. Die Wissenschaft als Komplizin der Verdinglichung.
Foucaults Analyse der Regierungskunst beschreibt eine Regierungsform, die Subjekte dazu bringt, sich selbst zu regieren. Die Führungsindustrie perfektioniert diese Logik. Das Management-Subjekt wird zum Unternehmer seiner selbst, der permanent in sein Humankapital investiert, Kompetenzen erweitert, Performance optimiert. Die Führungskraft als Start-up der eigenen Person – mit entsprechender Ausfallquote.
Die Widerstandstrainings, Coaching-Programme, Leadership-Seminare funktionieren als Technologien des Selbst, die das Subjekt anleiten, sich nach den Anforderungen des Systems zu formen. Der Widerspruch zwischen individuellen Bedürfnissen und organisationalen Zwängen wird verinnerlicht statt aufgelöst. Die Führungsperson lernt, diesen Widerspruch als persönliche Entwicklungsaufgabe zu interpretieren, als Chance zur Reifung, als Privileg der Verantwortung.
Die Selbstreflexion mutiert unter diesen Bedingungen zur endlosen Selbstanklage. Die Betrachtung des Handelnden zu den ihn umgebenden Umwelten führt zur Erkenntnis eigener Unzulänglichkeit – was wiederum den Konsum weiterer Selbstoptimierungsangebote motiviert.
Der Optimierungskomplex wird expandieren. Neue Konzepte entstehen, zusätzliche Kompetenzen werden gefordert, erweiterte Trainings angeboten. Das Management-Subjekt wird erschöpfter, überforderter, gefährdeter – während es gleichzeitig optimierter, widerstandsfähiger, kompetenter wird in der Kunst des Durchhaltens. Die Dialektik der Selbstausbeutung erreicht neue Stufen.
Die Alternative wäre fundamentale Kritik der Strukturen, die diese Überforderung erzeugen. Infragestellung der ökonomischen Logiken, die Menschen zu Humanressourcen degradieren. Rebellion gegen Verwertungsimperative spätkapitalistischer Arbeitsorganisation. Doch dafür fehlt die Energie – verbraucht im Training emotionaler Intelligenz, im Coaching verwandelnder Wirkung, im Seminar authentischer Führung.
Das Subjekt bleibt gefangen in seiner Erschöpfung. Der Totalangriff entfaltet seine Wirkung dadurch, dass er als Hilfsangebot erscheint, als Unterstützung, als Entwicklungschance. Die Führungskraft optimiert sich zu Tode – und nennt es Persönlichkeitsentwicklung. Die Zermürbungsmaschine läuft auf Hochtouren, angetrieben von den Erschöpften selbst.