Effizienzlüge

Mehr Markt, mehr Formulare: Die Effizienzlüge der simulierten Konkurrenz

Eine köstliche Zeitgeist-Pointe: Die enthusiastischen Deregulierungs-Propheten der 90er ersticken heute an ihren eigenen Compliance-Formularen. Willkommen in der Welt der simulierten Märkte – dem vielleicht erfolgreichsten Selbstbetrug des Spätkapitalismus.

Die Grundidee klang bestechend. Überall dort, wo staatliche Schwerfälligkeit gewirtschaftet hatte, sollte fortan der Markt sein reinigendes Werk verrichten. Krankenhäuser in den Wettbewerb treiben, Universitäten ranken, Verwaltungen ausschreiben. Das Mantra hieß „Effizienz durch Konkurrenz“, wer dagegen opponierte, galt als Ewiggestriger oder schlimmer: als jemand, der ökonomische Grundwahrheiten verweigert.

Verschwiegen wurde allerdings eine Kleinigkeit: Dass diese künstlich erzeugten Quasi-Märkte die Bürokratie exponentiell multiplizieren, statt sie abzubauen.

Schauen wir uns an, was passiert, wenn echte Märkte durch simulierte ersetzt werden. Im funktionierenden Markt kaufe ich Äpfel, zahle, fertig. Im Simulationsmarkt muss jemand erstmal definieren, was ein Apfel überhaupt ist, welche Qualitätskriterien er zu erfüllen hat, wie er gemessen wird, wer ihn misst, wie oft gemessen wird, wie die Messergebnisse dokumentiert werden, wer die Dokumentation prüft, welche Konsequenzen aus abweichenden Messungen folgen. Dann brauchen wir natürlich Wettbewerb. Also müssen alle Apfelproduzenten ihre Produkte in exakt derselben Weise beschreiben, damit sie vergleichbar werden. Standardisierte Formulare! Kennzahlen! Impact-Faktoren! Dazu, weil öffentliche Gelder im Spiel sind, Vergaberichtlinien, Ausschreibungsverfahren, Nachweispflichten, Evaluationen, Rezertifizierungen…

An deutschen Universitäten fließt mittlerweile ein erheblicher Teil der Arbeitszeit in die Dokumentation von Forschung statt in Forschung selbst. Krankenhäuser unterhalten ganze Abteilungen, deren primäre Aufgabe in der Kodierung von Fallpauschalen besteht. Die öffentliche Verwaltung wendet zunehmend mehr Kapazität für Vergaberecht auf als für ihre eigentlichen Aufgaben.

Alles im Namen des „schlanken Staates“.

Der Witz dabei: Die Marktfundamentalisten hätten es besser wissen müssen, denn jeder echte Unternehmer kann bestätigen, dass Konkurrenz auf regulierten Märkten ein administrativer Albtraum ist. Wettbewerb erfordert Vergleichbarkeit, Vergleichbarkeit erfordert Standardisierung, Standardisierung erzeugt Dokumentationspflichten. Die Zahl der Konkurrenten spielt dabei weniger eine Rolle als die Tatsache, dass überhaupt Wettbewerb stattfindet – die grundlegende Mess- und Kontrollinfrastruktur bleibt dieselbe, ob zwei oder zehn Anbieter im Rennen sind. Das ist keine böswillige Komplikation – das ist die Mechanik der Sache.

Besonders pikant wird es, wenn diese Pseudo-Märkte in Bereichen installiert werden, die überhaupt keine marktförmige Logik vertragen. Wie misst man den „Wettbewerbserfolg“ einer Grundschule? Wie viele Schüler pro Euro zum Abitur gebracht? Wie vergleicht man Krebstherapien? Nach Überlebensrate, Lebensqualität, Kosten pro gerettetem Lebensjahr? Jede dieser Entscheidungen ist hochpolitisch – jede generiert neue Kontroll- und Rechtfertigungsapparate.

Das eigentlich Ärgerliche ist die Heuchelei. Dass dieselben Akteure, die uns diese Monster-Hybride aus Staat und Markt eingebrockt haben, jetzt über „zu viel Bürokratie“ lamentieren. Dass sie so tun, als sei das alles ein bedauerlicher Betriebsunfall, obwohl es das logische Ergebnis ihres Systems ist. Wer echte Märkte will, muss den Mut haben zu sagen: Dann gibt es Gewinner und Verlierer, der Staat hält sich raus. Wer will, dass der Staat gewisse Standards garantiert, muss ehrlich zugeben: Dann kostet das Administration.

Diese verlogene Mittelposition – simulierte Märkte mit staatlicher Regulierung, Wettbewerb ohne Risiko, Effizienz ohne Konsequenz – produziert ausschließlich Formulare.

Man darf den Wettbewerbsgedanken ja meinetwegen gut finden, aus welchen ideologischen Gründen auch immer. Dann sollte man wenigstens den Anstand besitzen zuzugeben, dass mehr Konkurrenz zwangsläufig mehr Mess-, Kontroll- und Nachweisaufwand bedeutet. Dass die Bürokratie wegen der Marktreformen explodiert ist, trotz aller gegenteiligen Versprechungen.

Bis dahin leben wir weiter in dieser absurden Parallelwelt, in der alle über Bürokratieabbau reden, während sie eifrig neue Wettbewerbsmechanismen installieren. Und uns dann wundern, warum die Formulare sich multiplizieren. Die Lösung? Wäre eigentlich simpel: Entweder echte Märkte mit echten Risiken, oder ehrliche staatliche Organisation mit transparenten Regeln. Das würde allerdings bedeuten, sich festzulegen. Solange wir lieber im bequemen Zwielicht der simulierten Märkte verharren, sollten wir wenigstens aufhören, über die Bürokratie zu jammern, die wir uns selbst eingebrockt haben.

Die vergessene dritte Option

Doch vielleicht ist diese scheinbare Dichotomie – Markt oder Staat – bereits Teil des Problems.

Denn es gibt einen blinden Fleck in dieser ganzen Debatte, einen Bereich, den weder der Markt noch seine simulierte Variante je angemessen erfassen können: die Commons, die Gemeingüter. Was Wert hat, lässt sich längst nicht immer in Preise übersetzen. Was organisiert werden muss, verträgt längst nicht immer Konkurrenz. Es gibt Dinge – Ressourcen, Praktiken, Wissensbestände –, die ihre Qualität verlieren, wenn man sie marktförmig organisiert. Weil sie auf Kooperation statt Konkurrenz beruhen. Weil sie Zeit brauchen statt Effizienz. Weil ihr Wert sich nicht in Kennzahlen abbilden lässt.

Nehmen wir die Wissenschaft. Echte Forschung funktioniert über offenen Austausch, über das Teilen von Erkenntnissen, über geduldiges Experimentieren ohne Erfolgsgarantie. Der Versuch, sie in Wettbewerbsstrukturen zu pressen – durch Impact-Faktoren, Drittmittelquoten, Rankings – pervertiert ihren Kern. Wissenschaftler verbringen ihre Zeit mit Antragslyrik statt mit Forschung, optimieren ihre Publikationsstrategie statt ihre Methoden, jagen zitierfähigen Themen nach statt relevanten Fragen.

Oder die Pflege. Was einen guten Pflegedienst ausmacht, lässt sich nicht in Minuten-Takten messen. Es sind die Gespräche zwischen Tür und Angel, das Gespür für unausgesprochene Bedürfnisse, die Kontinuität der Beziehung. All das verschwindet, sobald man es zu quantifizieren versucht. Übrig bleiben dokumentierte Verrichtungen, abrechenbare Leistungseinheiten – und Menschen, die sich um echte Zuwendung betrogen fühlen.

Die Commons-Perspektive erinnert daran, dass es Bereiche gibt, die demokratischer Selbstorganisation bedürfen, keine marktförmige Steuerung. Wo Nutzer gemeinsam Regeln aushandeln, statt als Kunden aufzutreten. Wo Qualität durch Peer-Kontrolle entsteht, keine externen Bewertungssysteme braucht.

Wo Langfristigkeit zählt, keine Quartalsergebnisse.

Das ist keine romantische Rückwärtsutopie. Funktionierende Commons gibt es überall: von Open-Source-Software über wissenschaftliche Fachgemeinschaften bis zu genossenschaftlich organisierten Infrastrukturen. Sie funktionieren oft besser als ihre marktförmigen oder staatsbürokratischen Alternativen – gerade weil sie auf andere Koordinationsmechanismen setzen. Der entscheidende Unterschied: Commons brauchen keine aufwendigen Mess- und Kontrollsysteme, weil die Beteiligten selbst ein Interesse am Funktionieren haben. Wer Wikipedia nutzt, kann auch editieren. Wer Open-Source-Code verwendet, kann Fehler melden. Die Qualitätssicherung ist eingebaut, keine nachträgliche Auflage.

Natürlich sind Commons kein Allheilmittel. Sie funktionieren nicht überall, nicht automatisch, nicht konfliktfrei. Sie brauchen bestimmte Rahmenbedingungen: überschaubare Gemeinschaften, klare Grenzen, Möglichkeiten der Teilhabe. Elinor Ostrom, die für ihre Commons-Forschung den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, hat akribisch dokumentiert, unter welchen Bedingungen sie gelingen – und wann sie scheitern.

Die Existenz dieser dritten Option wirft allerdings ein hartes Licht auf die simulierten Märkte. Denn sie zeigt: Es gibt Alternativen zur falschen Wahl zwischen Markt und Staat. Es gibt Organisationsformen, die weder die Anonymität des Marktes brauchen noch die Hierarchie der Bürokratie. Die weder auf Gewinnmaximierung setzen noch auf zentrale Planung.

Die eigentliche Frage lautet also: Welche Bereiche gehören zu den Commons? Wo sollten wir auf marktförmige Organisation verzichten – weil bestimmte Güter und Praktiken unter Marktbedingungen ihre wesentlichen Qualitäten verlieren?

Bildung könnte dazugehören. Jetzt nicht die Vermittlung standardisierbarer Fähigkeiten, eher die Bildung im emphatischen Sinn: das gemeinsame Ringen um Verständnis, die Entwicklung kritischer Urteilskraft, die Weitergabe kultureller Praktiken. All das braucht Zeit, Beziehung, Raum für Umwege – Dinge, die sich durch Wettbewerb eher zerstören als befördern lassen.

Gesundheitsversorgung in weiten Teilen ebenfalls. Weniger die standardisierten Routineeingriffe vielleicht, eher die Sorge um chronisch Kranke, die Sterbebegleitung, die präventive Arbeit in Quartieren. Überall dort, wo Vertrauen, Kontinuität und individuelle Zuwendung zählen, richtet die Marktlogik Schaden an. Kulturelle Infrastruktur: Bibliotheken, Archive, öffentliche Räume. Sie schaffen Möglichkeitsbedingungen für gesellschaftliche Teilhabe, ohne unmittelbar messbare Outputs zu produzieren. Ihr Wert liegt gerade darin, dass sie nicht verzweckt sind, dass sie Begegnung ermöglichen, ohne sie zu konditionieren.

Ökologische Ressourcen sowieso.

Wälder, Gewässer, Atmosphäre – all das lässt sich weder sinnvoll privatisieren noch einfach staatlich verwalten. Lokale Gemeinschaften, die nachhaltige Nutzungsregeln aushandeln, haben hier in zahlreichen dokumentierten Fällen bessere Ergebnisse erzielt als Markt wie Staatsplanung gleichermaßen – genau das zeigt Ostroms Forschung.

Die Commons-Perspektive ist radikal, weil sie die scheinbar alternativlose Wahl zwischen Markt und Staat aufbricht. Sie zeigt: Es gibt einen Raum jenseits von Kaufen und Verwalten. Einen Raum, in dem Menschen gemeinsam Verantwortung übernehmen, ohne dass es eines aufwendigen Anreizsystems bedürfte. Und sie erklärt, warum die simulierten Märkte so monströs gescheitert sind. Weil sie versucht haben, Commons in Märkte zu verwandeln – ohne zu verstehen, dass manche Dinge ihre Qualität verlieren, sobald man sie der Wettbewerbslogik unterwirft.

Die Bürokratieexplosion ist der verzweifelte Versuch, durch immer feinere Regulierung das zu retten, was durch die Marktförmigkeit selbst zerstört wurde.

Wer ernsthaft über Bürokratieabbau nachdenken will, muss also weiter denken als bis zur Wahl zwischen Markt und Staat. Er muss fragen: Was sollte überhaupt nicht marktförmig organisiert werden? Wo brauchen wir Commons statt Konkurrenz? Wo schafft erst die Abwesenheit von Wettbewerb die Bedingungen für Qualität?

Das wäre eine ehrliche Debatte. Eine, die zugibt, dass sich gesellschaftliche Probleme nicht durchweg durch bessere Anreize lösen lassen. Eine, die anerkennt, dass manche Dinge gerade deshalb gut funktionieren, weil sie dem Markt entzogen sind.

Solange wir krampfhaft an der Illusion festhalten, man könne durch geschicktes Design von Quasi-Märkten die Vorteile von Wettbewerb ernten, ohne dessen Nachteile in Kauf zu nehmen, werden wir weiter in Formularen ersticken. Und uns wundern, warum die Effizienzversprechen sich nicht einlösen.

Manchmal denke ich an die Punks der frühen Achtziger mit ihrem „No Future“-Schlachtruf. Galten damals als nihilistische Chaoten, die nichts verstanden hatten. Vielleicht hatten sie aber doch etwas verstanden – dass diese Form der Marktradikalität, die gerade Fahrt aufnahm, tatsächlich keine Zukunft hatte. Zumindest keine, in der Gesellschaft als Miteinander noch funktioniert. In der Menschen füreinander einstehen, statt permanent gegeneinander antreten zu müssen. Die Kids mit den Irokesenschnitten haben womöglich früher begriffen als die Anzugträger in den Thinktanks, dass man eine Gesellschaft nicht wie ein Unternehmen führen kann, ohne sie (kreativ) zu zerstören. Dass Wettbewerb zwar Märkte dynamisiert, aber Gemeinschaften zersetzt.

Hätten wir damals besser zugehört, würden wir heute vielleicht weniger Formulare ausfüllen.