Es gibt diese LinkedIn-Momente, in denen man nicht weiß, ob man gerade Zeuge einer Geschäftsidee oder eines Selbsterfahrungstrips wird. Neulich stieß ich auf einen Post, der alle Ingredienzien dieses Genres vereinte: Ein Gründer präsentiert sich im Bayerischen Landtag, spricht von 50 KI-Assistenten, die täglich im Einsatz sind, und verspricht, dem deutschen Mittelstand die Zukunft zu retten. Microsoft, EY, Luther – die üblichen Verdächtigen sind dabei. Und vielleicht bald auch der Freistaat Bayern. Ein „persönliches Highlight“ sei das gewesen, an diesem „historischen Ort“.
Die 50 KI-Assistenten, so erfährt man aus anderen Posts, behandelt er wie Angestellte. Mitarbeitergespräche inklusive – Zielvereinbarungen lässt er großzügig aus, wäre ja auch absurd. Er stellt neue KI-Bots ein, entlässt nach Belieben, führt eine Art Personalmanagement für Algorithmen. Schöne neue Arbeitswelt. Was diese digitale Belegschaft tatsächlich leistet? Sie befeuert Instagram und andere Plattformen, generiert Präsentationen im 08-15-Format und schafft vor allem eines: Sichtbarkeit. Das neue Zauberwort. Wer auf LinkedIn sichtbar ist, so die Logik dieser Tage, dem öffnen sich Türen – bis in die Landtagssäle der deutschen Provinz hinein. Zum eigenen Fortkommen trägt das bei, zur Transformation des Mittelstands eher weniger.
Man muss kurz innehalten. Wir schreiben Oktober 2025, und die Realität sieht anders aus: Gerade einmal jedes fünfte deutsche Unternehmen nutzt überhaupt KI-Technologien. Bei kleineren Betrieben mit 10 bis 49 Beschäftigten sind es nur 17 Prozent. Die Hauptgründe? Fehlendes Wissen (71%), Unklarheit über rechtliche Folgen (58%), Datenschutzbedenken (53%). Der deutsche Mittelstand steht also tatsächlich vor massiven Herausforderungen, das ist unstrittig. Während aber draußen im Land Handwerksbetriebe nicht wissen, ob sie überhaupt einen ChatGPT-Zugang brauchen und was sie damit anfangen sollen, wird im Landtag von 50 KI-Assistenten geschwärmt. Die Bundesnetzagentur ermittelte kürzlich, dass Unternehmen die heutige Rolle von KI durchschnittlich mit 1,6 auf einer Skala von 0 bis 10 bewerten – also praktisch als vernachlässigbar. Erst in fünf Jahren erwarten sie eine zentrale Bedeutung.
Diese Diskrepanz offenbart ein Muster, das sich durch die gesamte deutsche KI-Debatte zieht: Erst wird eine Krise konstruiert, dann positioniert man sich als Retter. „Der deutsche Mittelstand verliert das KI-Wettrennen“ – dieser Eröffnungssatz trägt die rhetorische DNS unzähliger Keynotes, Whitepapers und Fördermittelanträge. Er funktioniert deshalb so gut, weil er eine Angst triggert, die in Deutschland tief sitzt: den Verlust technologischer Souveränität, das Abgehängtwerden, die Übernahme durch amerikanische oder chinesische Player.
Der Soziologe Andreas Reckwitz hat in seinem jüngsten Buch „Verlust“ beschrieben, wie die westliche Moderne von einer Verlustparadoxie angetrieben wird: Sie verspricht, Verluste zu reduzieren – und potenziert sie zugleich. In der Spätmoderne, so Reckwitz, kollabiert dieses fragile Arrangement, weil das Fortschrittsnarrativ massiv an Glaubwürdigkeit einbüßt. Was wir erleben, ist eine Eskalation von Verlusterfahrungen und Verlustängsten, die sich nicht mehr unsichtbar machen lassen. Die KI-Debatte im deutschen Mittelstand folgt exakt diesem Muster: Die Angst vor dem Verlust ist real und berechtigt, aber sie wird instrumentalisiert, um Geschäftsmodelle zu legitimieren, die das Problem eher verwalten als lösen.
Denn was in dieser Debatte chronisch fehlt, sind harte Fakten: KPIs, ROI-Berechnungen, belastbare Zahlen zur operativen Tauglichkeit. Stattdessen dominieren Heilsversprechen, während die tatsächlichen Investitionskosten kleingerechnet werden. Die versteckten Kosten für Integration, Wartung, kontinuierliche Anpassung? Bleiben im Nebel. Die Qualität vieler KI-Produkte und -Dienstleistungen gleicht dem klassischen Bananenprodukt: Es reift beim Kunden, soll aber vorab komplett bezahlt werden. Der Kunde wird zum Prosumer – ein Begriff, den Alvin Toffler schon in den 1980ern prägte – und übernimmt kostenlos Entwicklungsarbeit, während der Anbieter sich als Innovationsführer inszeniert. Qualitätsmängel werden nach Gusto als „iterativer Prozess“ oder „agiles Vorgehen“ umgedeutet.
Hinzu kommt eine begriffliche Unschärfe, die große Teile der LinkedIn-Diskurse diskreditiert: Large Language Models sind keine künstliche Intelligenz im eigentlichen Sinne, das Generieren von Texten ist kein intelligentes Verhalten. Doch diese Differenzierung stört das Narrativ. Wer von „50 KI-Assistenten“ spricht, meint in den meisten Fällen Prompt-Templates und API-Anbindungen an ChatGPT oder Claude – digitale Textmaschinen, die Social-Media-Content ausspucken und PowerPoint-Folien zusammenklicken. Das ist nützlich für die eigene Reichweite, aber es als revolutionären KI-Einsatz zu verkaufen, ist intellektuell unredlich. Die gewollte Begriffsvernebelung erlaubt es, jede digitale Spielerei zum Transformationshebel zu erklären.
Zurück zum LinkedIn-Post und zur angekündigten „gemeinnützigen KI-Initiative“, die „Transformation ganzheitlich“ denken will – von Infrastruktur und Compliance über Kompetenzaufbau bis hin zu selbstlernenden KI-Assistenten. Die Partnerallianz ist dabei symptomatisch für das gesamte Problem: Microsoft hat ein kommerzielles Interesse am Verkauf von Azure-Infrastruktur und Office-365-Lizenzen. EY verdient an Beratungsleistungen. Der Mittelstandsverbund ist ein Netzwerk, aber kein operativer Akteur. Was genau diese Konstellation dem Schreiner in Landshut oder der mittelständischen Maschinenbaufirma in Schwaben bringen soll, bleibt nebulös. Es ist die klassische Berater-Bubble-Choreographie: Man vernetzt sich auf höchster Ebene, spricht von „ganzheitlichen Ansätzen“ und „systemischen Lösungen“, während vor Ort praktische Hürden ungelöst bleiben.
Dabei ist das eigentliche Problem gar nicht der Mangel an Initiativen. Im Gegenteil: Bereits 2018 wurde das enorme Potenzial durch KI-Nutzung weltweit auf über 15 Billionen US-Dollar geschätzt, für Deutschland auf 430 Milliarden Euro zusätzliches Wachstum bis zum Jahr 2030. Seitdem hat die Bundesregierung diverse KI-Strategien verabschiedet. Es gibt Mittelstand-4.0-Kompetenzzentren, KI-Trainer, Förderprogramme wie das „Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand“. Die Infrastruktur existiert also, zumindest auf dem Papier. Trotzdem kommen die Zahlen nicht vom Fleck: Zwischen 2022 und 2024 stieg die KI-Nutzung in Unternehmen von 9 auf 20 Prozent – ein Fortschritt, aber kein Quantensprung.
Das eigentliche Problem ist die Fragmentierung. Jede neue Initiative fügt dem bereits unübersichtlichen Dschungel an Angeboten ein weiteres Element hinzu. Der Mittelständler, der gerade mal Zeit hat, sich überhaupt mit dem Thema zu beschäftigen, steht vor einem Wirrwarr aus Fördertöpfen, Beratungsangeboten, Plattformen und Netzwerken. Hier zeigt sich der Kern des Widerspruchs: Während LinkedIn-Posts von 50 KI-Assistenten sprechen, die täglich zum Einsatz kommen, lautet die zentrale Frage des Mittelstands nicht „Wie baue ich mir ein Team aus 50 KI-Assistenten auf?“, sondern „Wie kann ich überhaupt anfangen, ohne sofort in komplexe rechtliche und technische Fallstricke zu geraten?“
Bei allem Getöse darf man nicht vergessen: KI ist im Unternehmenskontext ein Unterstützungsprozess, kein Selbstzweck. Sie soll Kernprozesse effizienter machen – Produktion, Vertrieb, Service. Doch in der aktuellen Debatte scheint sich die Hierarchie umzukehren. Die IT-Infrastruktur wird zum vermeintlichen Mittelpunkt, während die eigentliche Wertschöpfung zur Nebensache verkommt. Es ist, als hielten sich die Streusel für den Kuchen.
Erfolgreiche Beispiele zeigen einen anderen Weg: Mittelständler wie Melitta begannen mit einem einzigen Use Case im Customer Service und skalierten von dort aus. Praktiker wie Florian Baader berichten aus drei Jahren KI-Arbeit im Mittelstand, dass der Einstieg mit Prompting-Trainings beginnt, nicht mit autonomen Agentensystemen. Das ist der realistische Weg – keine großspurigen Transformationsprogramme, sondern niedrigschwellige, praxisnahe Lösungen statt weiterer Strategiepapiere.
Die Rhetorik des Landtags-Auftritts bedient sich derweil geschickt demokratischer Symbolik: Der „historische Ort“ verleiht Legitimität, die Erwähnung des Freistaats Bayern suggeriert staatliche Unterstützung, die Frage „Was braucht es aus eurer Sicht?“ inszeniert partizipative Teilhabe. Doch am Ende bleibt unklar, was konkret passieren soll. Transformation wird hier nicht operationalisiert, sondern zelebriert. Das ist kein Einzelfall. Die deutsche KI-Debatte ist durchsetzt von solchen performativen Gesten: Panels auf Konferenzen, Absichtserklärungen in Ministerien, Strategiepapiere von Verbänden.
Was fehlt, ist der Mut zur Banalität – zur schnöden, unspektakulären Arbeit an konkreten Lösungen, die auch der nicht-digitalisierte Betrieb umsetzen kann. Der deutsche Mittelstand braucht keine weitere Initiative, die „Transformation ganzheitlich denkt“. Er braucht Menschen, die ihm zeigen, wie er morgen früh mit KI anfangen kann, ohne erst monatelang Compliance-Frameworks aufzubauen. Er braucht Open-Source-Lösungen, die funktionieren. Er braucht rechtliche Klarheit, keine weiteren Absichtserklärungen. Und er braucht weniger LinkedIn-Propheten, die im Landtag auftreten, während die echte Arbeit an der Basis stattfindet – fernab von Partnernetzwerken und historischen Orten.
Das Titelbild zu dieser Kolumne ist selbstverständlich KI-generiert. Wie könnte es anders sein.
Quellen: