Ein Anwalt stellt Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner New Yorker Kanzlei einen neuen Kopisten ein: Bartleby. Der arbeitet zunächst fleißig und mechanisch, bis er eines Tages auf eine Arbeitsanweisung antwortet: „I would prefer not to“ – ich möchte lieber nicht. Ab diesem Moment wiederholt er die Phrase bei jeder Aufforderung, verweigert schließlich jede Tätigkeit, bewegt sich kaum noch, isst nichts mehr. Der Arbeitgeber versucht alles – Überredung, Bestechung, Mitleid, Wut – nichts funktioniert. Bartleby bleibt. Am Ende stirbt er im Gefängnis, verhungert, weil er es vorzog, nicht zu essen.
Herman Melvilles Erzählung von 1853 ist kurz, absurd komisch, verstörend. Die Phrase „I would prefer not to“ wurde zur Formel – philosophisch, politisch, kulturell vielfach gedeutet. Für Management ist sie deshalb interessant, weil sie eine Form der Verweigerung zeigt, die sich allen üblichen Kategorien entzieht.
Bartlebys berühmte Formel irritiert Manager aus einem präzisen Grund: Sie demontiert die Grundarchitektur organisationaler Steuerung. Wo Hierarchie auf Gehorsam oder zumindest auf begründeten Widerspruch setzt, installiert die Phrase eine dritte, nicht vorgesehene Option – die höfliche Verweigerung ohne Rechtfertigung.
Die Formel wirkt deshalb so verstörend, weil Bartlebys impliziter Widerstand zwar sichtbar bleibt, aber so ambivalent erscheint, dass er sich kaum konfrontieren lässt. Seine Passivität entwaffnet jeden Versuch direkter Auseinandersetzung.
Bartlebys Apathie ist weniger individuelles Versagen als vielmehr Produkt einer sterilen Bürokratie, die mit den authentischen Impulsen des Individuums nichts mehr zu tun hat. Seine intern errichteten Mauern erweisen sich als undurchdringlicher als jede äußere Barriere.
Die Management-Frage lautet: Wie viele „Bartlebys“ produziert Ihre Organisation täglich durch Sinnentleerung, Entfremdung und mechanistische Arbeitsprozesse? Die Verweigerung wird zum Frühwarnsystem für systemische Dysfunktion.
Die Phrase vermeidet geschickt den Ausdruck eigenen Willens – Bartleby sagt niemals „Ich will nicht“. Dennoch erlebt sein Vorgesetzter diese Präferenz als extrem eigenwillig, derart, dass er vollständig überrumpelt wird.
Manager glauben, sie steuerten durch Anweisung und Zielvorgabe. Bartleby demonstriert die Fragilität dieser Fiktion. Macht funktioniert nur, solange das Gegenüber die Spielregeln akzeptiert. Weiche Verweigerung kann Machtstrukturen effektiver erschüttern als lauter Protest.
Jede Führungsrolle operiert über implizite Eltern-Kind-Dynamiken: Mentor/Mentee, Senior/Junior, Expertise/Lernbereitschaft. Bartlebys Formel deaktiviert diese Codes komplett – weder durch Rebellion (das Kind gegen die Autorität) noch durch Konformität, sondern durch Entzug aus dem gesamten Spiel. Management setzt voraus, dass Mitarbeitende die elterliche Autorität der Struktur anerkennen – sei es durch Gehorsam oder begründeten Widerspruch. Bartleby tut weder noch. Er schafft eine „Ungewissheitszone“, in der die Spielregeln selbst suspendiert sind.
Was bedeutet Bartlebys Verweigerung eigentlich? Warum „bevorzugt“ er die Nicht-Handlung, statt kategorisch abzulehnen? Vielleicht artikuliert er lediglich, was andere verschweigen: dass bestimmte Arbeit keinen Sinn ergibt, dass Produktivität um ihrer selbst willen destruktiv wirkt.
Die unbequeme Wahrheit: Bartleby könnte der einzige Ehrliche im Raum sein. Während andere funktionieren, weil Gehalt, Konformitätsdruck oder Statusangst sie antreiben, verweigert er die Heuchelei kooperativer Mittelmäßigkeit.
Die Phrase ist weder Affirmation noch Negation. Sie tilgt beide Terme gleichzeitig, höhlt eine Zone der Unbestimmtheit aus, die sich stetig ausweitet. Deleuze nennt das die „chemische Formel“ – eine alchemistische Operation, die jede Bestimmtheit auflöst, ohne eine neue zu setzen.
Das Management-Dilemma: Organisationen reagieren auf Bartleby typischerweise mit Eskalation (Kündigung) oder Integration (Coaching). Beides verfehlt das Ereignis. Bartlebys Formel könnte als Einladung gelesen werden, die Organisation selbst neu zu denken – wenn man nicht zu schnell zurückschreckt ins Bestehende.
Die Formel öffnet einen Denkraum, in dem neue Organisationsformen überhaupt erst vorstellbar werden. Was wäre eine Organisation, die Bartlebys Logik nicht als Störung behandelt, sondern als Signal für eine andere Form des Zusammenarbeitens? Eine, die nicht auf Compliance setzt, sondern auf Resonanz?
Deleuze nennt das die „Bruderschaft ohne Vater“ – eine Vergemeinschaftung ohne hierarchische Legitimationsketten, die ihre Mitglieder nicht durch Stellenbeschreibungen definiert, sondern durch geteilte Unbestimmtheit. Klingt esoterisch? Vielleicht. Bestimmte Formen radikaler Selbstorganisation, dezentrale Netzwerke oder Commons-basierte Produktion experimentieren genau damit: Koordination ohne Kommando, Kohärenz ohne Konformität.
Die entscheidende Frage für Führungskräfte wäre dann: Was lernen wir, wenn wir Bartlebys Position nicht sofort normalisieren? Welche blinden Flecken der Organisation werden sichtbar, welche unausgesprochenen Vorannahmen brüchig?
Für Führungskräfte bedeutet das:
Die Phrase markiert die Grenze instrumenteller Rationalität. Führung, die sich darauf beschränkt, Aufgaben zu verteilen und Compliance einzufordern, wird an Menschen scheitern, die – wie Bartleby – die implizite Sinnfrage stellen.
Žižeks Lesart, dass „Nichts-tun manchmal die gewalttätigste Handlung“ darstellt, trifft Organisationen ins Mark. Bartlebys Verweigerung erzeugt mehr Unordnung als aktiver Widerstand, weil sie das System zwingt, seine Legitimität zu beweisen.
Drei Reflexionsfragen:
Diagnostisch: Wo produziert Ihr System Situationen, in denen Mitarbeitende weder Ja noch Nein sagen können – sondern in einer Zone der Unbestimmtheit hängen? Wo sind Verantwortlichkeiten so atomisiert, dass niemand mehr entscheiden kann? Wo gilt die Sinnfrage selbst als unzulässig?
Systemisch: Welche Ihrer Management-Praktiken setzen auf reine Compliance statt auf echte Zustimmung? Wo tarnt sich fehlende Legitimität als Effizienz?
Ethisch: Was würde passieren, wenn Ihre Mitarbeitenden ehrlich sagten „I would prefer not to“? Wäre das Zusammenbruch oder Chance für sinnvolle Neuausrichtung?
Die eigentliche Lektion für Manager: Bartleby lässt sich weder entlassen noch integrieren, weder verstehen noch ignorieren. Er verkörpert das Unverfügbare in Organisationen – jenen Rest menschlicher Autonomie, der sich ökonomischer Vereinnahmung entzieht.
Die Formel repräsentiert den Überschuss jeder kategorischen Interpretation – das noch Unbegründete, das Uninterpretierbare, das Indeterminierte. Präzise das, was sich nicht erfassen, festhalten oder platzieren lässt.
Vielleicht ist das die wichtigste Management-Erkenntnis: Erfolgreiche Führung muss lernen, mit diesem Unverfügbaren produktiv umzugehen, statt es eliminieren zu wollen. Die Alternative wäre eine Organisation ausschließlich gefügiger, aber innerlich abwesender Menschen.
Ob das wünschenswert ist, bleibt zu klären. Bartleby jedenfalls würde sagen: „I would prefer not to.“