Wie Deutschland zur 83,6-Millionen-Truppe werden soll
83,6 Millionen Menschen. Eine Truppe. Jeder kennt seine Rolle.
Ferdinand Gehringer und Daniel Auwermann erschaffen das perfekte Euphemismus-Biotop für die Totalmobilisierung einer ganzen Nation. Ihr „Sicherheitsdialog Deutschland“ verkauft die Militarisierung der Zivilgesellschaft als partizipative Bürgerbeteiligung. Ein Meisterstück orwellscher Begriffsakrobatik.
„Wir reden nicht nur über Sicherheit. Wir arbeiten gemeinsam daran – mit Expert:innen aus Staat, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Kultur“, lautet das Manifest der beiden Sicherheits-Evangelisten. Ziel: Deutschland „kriegstauglich“ machen – „kulturell, kommunikativ, organisatorisch“. Was hier als Bürgerdialog getarnt wird, ist pure Neusprech-Ästhetik: das Ministerium für Wahrheit in zeitgemäßer Aufmachung, das die Grenze zwischen Zivilist und Kombattant auflöst. Der Volkssturm 4.0, digital optimiert und diversity-zertifiziert.
Auwermann bringt die Credentials mit: Ex-Marineoffizier, UN-Sprecher im Libanon, EU-Medienkoordinator für die Antipiraterie-Mission vor Somalia. Gehringer steuert die Cybersicherheits-Expertise der Konrad-Adenauer-Stiftung bei. Beide eint die Vision einer Gesellschaft, in der jeder seine Rolle kennt – vom Säugling bis zum Greis, vom Dichter bis zum Bäcker.
Die Sprach-Camouflage zeigt perfide Systematik. Klassische Militaristen reden von Panzern und Gewehren – die Neusprech-Strategen von „Resilienz-Building“ und „gesamtgesellschaftlichen Ansätzen“. Sie erschaffen eine Sprache, die Kriegstauglichkeit als Kulturarbeit verkauft. Krieg ist Frieden, Eingliederung ist Partizipation. Der „vertrauliche Arbeitsraum“ mutiert zur Konzeptionsstube für schleichende Gleichschaltung.
Die interne Roadmap entlarvt die wahren Intentionen: Eine „Coalition of the Willing“ soll rekrutiert werden – ausgerechnet jener Bush-Code für die Irak-Kriegskoalition. Ein „Big Bang“ durch „das gelbe Buch“, „Kampagnenarbeit“ als finales Ziel. Die „Defence-Szene“ vernetzt sich über MSC-Events, während Thomas Wiegold und Constantin Schreiber als mediale Multiplikatoren fungieren. Kriegsplanung im Powerpoint-Format.
Das unterscheidet den neuen vom historischen Volkssturm: Der alte rief zum Kampf. Der neue versteckt sich hinter partizipativer Rhetorik. „Jenseits der sicherheitspolitischen Bubble“ wollen sie wirken – als ob die Transformation von 83 Millionen Menschen in eine Kampfeinheit keine sicherheitspolitische Maßnahme wäre. Sanftere Methoden, härtere Ziele.
Die Ironie ist bitter: Im Namen der Demokratie-Verteidigung liquidieren sie deren Substanz. Die freie Gesellschaft organisiert sich selbst ab, um „verteidigungsfähig“ zu werden. Die Zeitenwende entpuppt sich als Zeitenumkehr in autoritäre Strukturen – nur mit besserer PR-Beratung.
Deutschland wird zur Kaserne mit 83 Millionen Insassen, die alle glauben, freiwillig mitzumachen. Die Buchhändlerin mutiert zur Informationskriegerin, der Rentner zum Frühwarnsystem, das Kind zur digitalen Schutzzone. „Resilienz“ wird zur Codierung für kollektive Mobilmachung.
Was als kulturelle Renaissance daherkommt, löst die Zivilgesellschaft auf. Die Heimatfront wird zur einzigen Front. Am Ende stehen sie nicht vor dem Krieg, sondern mittendrin: einem Krieg gegen die Idee einer Gesellschaft, die mehr ist als die Summe ihrer strategischen Verwertbarkeit.
Der Sicherheitsdialog ist kein Dialog. Er ist ein Monolog der Macht über gesellschaftliche Auflösung.
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Die Resonanzkartographie des „Sicherheitsdialogs Deutschland“ offenbart ein faszinierendes Spektrum zwischen Dialog-Evangelismus und kritischer Dekonstruktion.
Blog der Republik führt die Widerstandsfront an – scharfe Analyse, präzise Demaskierung. Die Autoren entlarven den Dialog als Militarisierungskampagne und decken den Etikettenschwindel mit der Liz Mohn Stiftung auf.¹ Ein journalistischer Volltreffer gegen die Resilienz-Rhetorik.
Die Liz Mohn Stiftung distanziert sich prompt: Kein Geld, keine Unterstützung, Logo-Missbrauch unterbunden. Geschäftsführer Habich musste klarstellen, dass die Stiftung ohne Wissen vereinnahmt wurde – ein peinlicher Fehltritt der Dialog-Strategen.
Bemerkenswert ist das mediale Nicht-Echo. Tagesspiegel, FAZ, Süddeutsche: Funkstille. Entweder haben die Qualitätsmedien den Dialog noch nicht auf dem Schirm, oder sie praktizieren elegante Ignoranz. Die Friedensbewegung schweigt ebenfalls – möglicherweise beschäftigt mit anderen Kriegsschauplätzen der Zeitenwende-Debatte.
Das Sicherheitsdialog-Universum versammelt derweil eine illustre Expert:innen-Assemblage: Bundeswehr-Generale, BBK-Vizes, Polizeihochschul-Professoren, Charité-Chefs. Ein Who’s Who der deutschen Sicherheitsarchitektur, verpackt als zivilgesellschaftliche Initiative. Marie-Agnes Strack-Zimmermann taucht erwartungsgemäß als „top Sparringspartnerin“ auf – die Verteidigungsapostelin als Dialog-Ornament.
Spannend bleibt das Resonanz-Paradox: Der Dialog erzeugt mehr Kritik-Echo als Unterstützungs-Rauschen. Ein Indiz für die problematische Substanz? Die Sicherheitsdialog-Resonanz bleibt vorerst ein Nischen-Phänomen zwischen Think-Tank-Blasen und kritischer Blogosphäre.
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¹ Blog der Republik: „Sicherheitsdialog Deutschland“ und Liz Mohn Stiftung: Rüstung, Rüstung über alles. 26. Mai 2025. https://www.blog-der-republik.de/sicherheitsdialog-deutschland-und-liz-mohn-stiftung-ruestung-ruestung-ueber-alles/