Disponibilität – Eine Position ohne Position

Disponibilität – Eine Position ohne Position

Wenn ich Menschen erkläre, was ich unter Disponibilität verstehe, begegne ich meist einem Stirnrunzeln, das sich zwischen Neugier und Verwirrung bewegt. Eine Position ohne Position – das klingt nach einem philosophischen Widerspruch, nach einer jener Zen-Paradoxien, die mehr verwirren als erhellen sollen. Dabei ist Disponibilität nur ein Punkt in einem größeren Gefüge, das ich als Fünfeck-Modell beschreibe und das vielleicht die wesentlichste Haltung umreißt, die wir in einer Welt entwickeln können, in der jeder eine Meinung zu allem hat und diese auch noch permanent kundtun muss.

Das Fünfeck als Raum der Verwandlung

Mein Coaching-Ansatz gründet auf fünf Konzepten, die sich gegenseitig durchdringen: Disponibilität, das Anspielungshafte, das Umwegige, die De-Fixierung und die stille Transformation. Diese fünf Punkte bilden ein Fünfeck, dessen wahre Kraft nicht in den einzelnen Elementen liegt, sondern im Dazwischen – in jenem Zwischenraum, in dem Coaching als Quellgrund stiller Transformation erst möglich wird.

Disponibilität bildet dabei die Grundhaltung, jene Position ohne Position, die es ermöglicht, dass sich überhaupt etwas zeigen kann. Wer disponibel ist, nimmt keine feste Position ein, weil er erkannt hat, dass jede Fixierung zugleich eine Begrenzung bedeutet – und genau hier greift bereits das vierte Element des Modells, die De-Fixierung, die aus der Verklemmung herausführt und in Bewegung bringt, was zuvor einer Weiterentwicklung verwehrt war.

Das Anspielungshafte und die Kunst der Andeutung

Im Coaching praktiziere ich das, was François Jullien das Anspielungshafte nennt – jene subtile Kunst der Andeutung, die Räume öffnet, statt sie zu verschließen. Während direkte Intervention oft Widerstand erzeugt, ermöglicht die Anspielung freie Assoziation, lädt den Kunden ein, selbst zu entdecken, was sich zeigen möchte. Das Anspielungshafte arbeitet mit der Kraft des Unausgesprochenen, mit dem, was zwischen den Zeilen steht und gerade deshalb seine Wirkung entfalten kann.

Diese Haltung verlangt vom Coach eine besondere Art der Disponibilität – er muss bereit sein, auf das zu reagieren, was sich andeutet, ohne es sofort festzulegen oder zu interpretieren. Es ist die Kunst, im Raum der Möglichkeiten zu verweilen, ohne vorschnell in die Eindeutigkeit zu fliehen.

Das Umwegige als Strategie der Nicht-Strategie

Das dritte Element des Modells, das Umwegige, beschreibt einen Coaching-Verlauf, der Frontalangriffe konsequent vermeidet und stattdessen schräg agiert – eine Strategie, die der chinesischen Philosophie ebenso vertraut ist wie den Einsichten Freuds über die Umwege des Unbewussten. Wo direkte Konfrontation Blockaden verstärkt, löst der Umweg sie auf, indem er sie nicht bekämpft, sondern umgeht.

Diese Herangehensweise erfordert eine Disponibilität besonderer Art: die Bereitschaft, scheinbar ineffiziente Wege zu gehen, Umwege als die eigentlichen Hauptwege zu erkennen und in der Kunst des indirekten Vorgehens eine höhere Form der Wirksamkeit zu entdecken. Das Umwegige ist keine Schwäche, sondern die raffinierte Anwendung des Wu Wei – des Handelns durch Nicht-Handeln.

De-Fixierung als Befreiung vom Anhaften

Wo Menschen in ihren Mustern und Gewohnheiten verhaftet sind, wo sie an Überzeugungen kleben, die ihnen mehr schaden als nützen, dort setzt die De-Fixierung an. Sie ist nicht Zerstörung, sondern Befreiung – die sanfte Lösung dessen, was sich verkrampft hat, die Wiederherstellung von Beweglichkeit dort, wo Erstarrung herrschte.

De-Fixierung geschieht nicht durch Gewalt oder direkten Angriff auf die problematischen Muster, sondern durch die disponible Haltung des Coaches, der Raum schafft für neue Möglichkeiten, ohne die alten Strukturen zu bekämpfen. Es ist ein Prozess, der von innen heraus geschieht, ermöglicht durch die Verbindung aller fünf Elemente des Modells.

Stille Transformation als Ziel ohne Ziel

Das fünfte Element, die stille Transformation, beschreibt das, was geschieht, wenn alle anderen Aspekte zusammenwirken. Es ist eine Verwandlung, die sich ereignet, ohne dass sie erzwungen wird – ein Prozess, der so subtil verläuft, dass er oft erst im Nachhinein sichtbar wird. Die stille Transformation ist das Gegenteil der lauten Selbstoptimierung; sie vollzieht sich in der Tiefe und verändert nicht nur Verhaltensweisen, sondern die zugrunde liegende Haltung zur Welt.

Disponibilität als Widerstand gegen die Verwertungslogik

In einer Zeit, in der alles und jeder vermarktet, kategorisiert und instrumentalisiert wird, ist die Haltung der Disponibilität auch eine Form des Widerstands gegen die neoliberale Verwertungslogik. Byung-Chul Han beschreibt, wie das System uns zu permanenter Selbstoptimierung antreibt – das Fünfeck-Modell ist die Gegenbewegung: Es optimiert nicht, es öffnet; es verbessert nicht, es ermöglicht; es fixiert nicht, es lässt geschehen.

Die fünf Elemente arbeiten zusammen an dem, was ich eine Ästhetik der Existenz nenne – eine Lebenskunst, die sich der Logik der Effizienz und Produktivität entzieht und stattdessen Räume schafft für das Unverfügbare, das Überraschende, das still Transformierende.

Das Fünfeck als Lebenshaltung

Was als Coaching-Modell begann, kann zu einer Lebenshaltung werden, die uns lehrt, mit Ungewissheit zu leben, ohne sie sofort auflösen zu müssen. Die Disponibilität ermöglicht es uns, in Beziehungen präsent zu sein, ohne den anderen zu vereinnahmen; das Anspielungshafte lehrt uns die Kunst der subtilen Kommunikation; das Umwegige zeigt uns alternative Pfade; die De-Fixierung befreit uns von verkrusteten Mustern; und die stille Transformation öffnet Räume für Wandlung, die nicht erzwungen werden kann.

In Zeiten des Klimawandels und der ökologischen Krise könnte dieses Fünfeck der Schlüssel zu einem anderen Verhältnis zur Welt sein – disponibel und anspielungsreich, umwegig und de-fixierend, offen für die stille Transformation, die vielleicht unsere einzige Chance ist. Das Modell verlangt Mut, weil es bedeutet, die Kontrolle aufzugeben. Aber vielleicht ist genau das die Weisheit unserer Zeit: zu erkennen, dass wahre Stärke nicht im Festhalten liegt, sondern in der Bereitschaft, alle fünf Ecken zugleich zu bewohnen und im Dazwischen zu wirken.