In einer Gesellschaft, in der Misserfolg und Leiden mit zu den beliebtesten Themen avanciert sind, könnte man fast meinen, dass wir alle in eine Art kollektive Selbsthilfegruppe geraten sind. Das Schreiben über Schmerz und Versagen hat sich zu einem neuen Volkssport entwickelt, der bei weitem unterhaltsamer ist als das Streben nach Erfolg – schließlich gibt es da auch nichts mehr zu verlieren.
Schmerz – das neue Schwarz. Wenn man nicht über seine eigene Quälerei schreiben kann, wo bleibt da der Spaß? Unzählige Social-Media-Akteure fühlen sich berufen, als Botschafter des Leidens zu fungieren, immer auf der Suche nach mehr Tragik, damit das nächste Posting auch wirklich bombastisch zieht. „Schmerzen sind eigentlich ganz inspirierend!“, postuliert einer von ihnen, während er gleichzeitig einen weiteren Artikel über die grausamen Tücken des Lebens verfasst. Wenn man nach neuen Wegen sucht, um zu leiden, wäre es am besten, sich einen Notizblock zuzulegen. Schließlich kommen die besten Ideen immer aus der tiefsten Verzweiflung.
Versagen wird zur Antriebskraft für herzzerreißende Biografien. Der kreative Umgang mit dem eigenen Scheitern ist ein regelrechtes Geschäft geworden. Niemand möchte mehr einen perfekten Lebenslauf lesen – stattdessen ist das Versagen zum Aushängeschild für Authentizität geworden. „Ich habe alles falsch gemacht und es hat großartig geklappt!“, ist die Devise der Stunde. Jede abgebrochene Ausbildung und jede gescheiterte Beziehung wird zur Gelegenheit, um die nächste große Sache zu erfinden. Wer benötigt schon Erfolge, wenn man Geschichten über Misserfolge erzählen kann, die einem die Tränen in die Augen treiben?
Und dann gibt es da noch die Trend-Krankheiten – denn Werbetreibende und Influencer wissen: Ein bisschen Selbstmitleid verkauft sich immer besser mit einer Prise Exklusivität. Disease und Failure sind das neue Sex & Crime. Digitale Abhängigkeit? Ein neues Lebensmodell! Wer regelmäßig über seine Angstzustände postet, hat die Pflicht erfüllt, um in der gehobenen Social-Media-Sphäre zu glänzen. Die nächste Stufe sind dann beneidenswerte „Diagnosen“. Geschickt inszeniert und als erschwingliches Produkt platziert, ist die „Schrei-dir-die-Seele-aus-dem-Leib-Diät“ als Lösung die konsequente Fortführung. Aus Schmerz wird man klug, und das sollen alle wissen. Mit Glück verdient man nebenbei ein bisschen Geld.
Heimlich schmunzeln wir über die eigene Tragik und genießen es, sie mit der Welt zu teilen. Vielleicht ist das Geheimnis des Lebens im Spätkapitalismus, dass wir nur durch unser Elend ein wenig Aufmerksamkeit bekommen. Das ständige Verfolgen von Schmerz und Versagen ist zu einer Art Wettlauf geworden, in dem das echte Leben nicht mehr zählt – nur die Rankings der Mitleids-Likes. Letztlich stellt sich die Frage: Wie viel Spaß, nein, wie lange macht uns Leser und Leserinnen das ganze Elend eigentlich noch betroffen, bevor wir anfangen, uns zu langweilen? Neil Postman titulierte 1985: Wir amüsieren uns zu Tode. Ach, was soll’s – machen wir das Beste aus unserem schrecklichen, aber so unterhaltsamen Dasein, denn jedes Leiden ist ein weiterer Strich auf der großen Leinwand des Lebens in den Social-Media-Blasen.