Belastungsgrenze-Arbeit

Die systematische Auslotung menschlicher Grenzen

Eine kleine Meditation über die Belastbarkeit des menschlichen Materials

 

Ich am sitze Frühstückstisch mit meiner Tasse Kaffee und lese diese eine Schlagzeile, die mich fragt, wie viel Arbeit der Mensch verkraftet, während ich mich frage, wer diese Frage eigentlich stellt und warum sie so gestellt wird, als ginge es um die Tragfähigkeit einer Brücke oder die Belastungsgrenze eines Motors.
Die Antwort ist denkbar einfach: Der Mensch verkraftet so viel Arbeit, bis er tot ist. Dann ist Schluss. Vorher aber optimieren wir ihn, bis die Fetzen fliegen.
Was für eine wunderbare Zeit, in der wir leben! Eine Zeit, in der nicht mehr gefragt wird, wie wir arbeiten wollen, sondern wie viel mehr Arbeit wir noch in den Menschen hineinpressen können, bevor er zusammenbricht. Die Ingenieurskunst der Menschenverwertung hat Hochkonjunktur.
Dabei ist das System perfekt durchdacht: Nach acht Stunden Lohnarbeit beginnt die eigentliche Arbeit erst. Regenerationsarbeit nennt sich das. Sport machen, um fit für die Arbeit zu bleiben. Gesund essen, um produktiv zu sein. Schlafen optimieren, damit die Leistung stimmt. Beziehungen pflegen, damit die emotionale Stabilität für den Job gewährleistet ist. Kinder erziehen, damit der Nachwuchs später ebenfalls optimal funktioniert.
Der moderne Arbeitende ist ein Rundumpaket geworden – eine Ich-AG, die sich selbst bewirtschaftet, selbst optimiert und dabei völlig übersieht, dass sie sich zu Tode optimiert.
Besonders charmant finde ich die neuen Begriffe, die uns die Arbeitswelt schenkt: Work-Life-Balance, als gäbe es ein Leben neben der Arbeit. Selbstfürsorge, als sei das nicht das Mindeste, was man sich schuldet. Resilienz, als sei es normal, dass Menschen wie Kettlebells durch die Gegend geschleudert werden.
Die LifeCoaches – und ich kenne diese Spezies gut – haben längst das Kommando übernommen. Sie erklären dem erschöpften Menschen, dass er nur richtig atmen müsse, dann würde schon alles funktionieren. Sie verkaufen Achtsamkeit als Produktivitätssteigerung und Meditation als Effizienzbooster. Der Zen-Kapitalismus lässt grüßen.
Während ich das schreibe, denke ich an die vielen Menschen, die ich kenne, die sich täglich fragen, ob sie noch normal sind, weil sie diese Tretmühle nicht mehr ertragen. Die sich schuldig fühlen, wenn sie müde und erschöpft sind. Die glauben, sie seien zu schwach, weil sie nicht mehr können.
Dabei ist die Wahrheit so einfach: Das System ist krank, nicht die Menschen.
Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die Menschen systematisch verschleißt und ihnen dabei einredet, sie seien selbst verantwortlich für ihren Verschleiß. Eine Gesellschaft, die Erschöpfung pathologisiert, statt die Verhältnisse zu hinterfragen, die zur Erschöpfung führen.
Die Frage ist also nicht, wie viel Arbeit der Mensch verkraftet. Die Frage ist: Warum stellen wir diese Frage überhaupt? Und warum fragen wir nicht stattdessen: Wie wollen wir leben? Was ist ein gutes Leben? Wie können wir Arbeit so gestalten, dass sie dem Leben dient und nicht umgekehrt?
Aber solche Fragen stellen wir nicht. Wir optimieren lieber weiter. Bis zum bitteren Ende.

Sascha Büttner lebt in Limburg und ist Coach, wenn er gerade nicht versucht, der Optimierungsgesellschaft zu entkommen.

 

Anmerkung

Wer sich tiefer in die Anatomie dieser systematischen Selbstausbeutung eingraben möchte, dem sei Byung-Chul Hans „Müdigkeitsgesellschaft“ empfohlen, in der er präzise analysiert, wie aus der Disziplinargesellschaft eine Leistungsgesellschaft wurde, die ihre Untertanen zu freiwilligen Selbstausbeutern transformiert. David Graebers „Bullshit Jobs“ dekonstruiert derweil die absurde Logik einer Arbeitswelt, die Menschen in sinnlosen Tätigkeiten gefangen hält, während sie ihnen einredet, diese seien essentiell für ihr Überleben.
Foucaults „Überwachen und Strafen“ liefert die historische Grundierung für das Verständnis, wie Körper zu Objekten der Optimierung wurden, und François Jullien zeigt in „Vom Sein zum Leben“, welche Denkwege jenseits der westlichen Effizienzlogik möglich wären, wenn wir bereit wären, sie zu beschreiten.
Für die praktische Dimension empfehle ich Jenny Odells „Nichts tun“ – ein Plädoyer für den Widerstand gegen die Aufmerksamkeitsökonomie, die unsere Lebenszeit kolonialisiert hat, sowie Robin Wall Kimmerers „Geflochtenes Süßgras“, das alternative Formen des Wirtschaftens und Lebens aufzeigt, jenseits der kapitalistischen Verwertungslogik.

 

Das metalabor beschäftigt sich regelmäßig mit diesen Fragen der Zeit und der Entschleunigung.