Hundstage

 

Hundstage

Zu früh wach. Die Vögel schreien, als wäre die Welt ihr Eigentum. Schweiß auf der Stirn, obwohl der Tag kaum angefangen hat. Das Laken klebt. Eine Fliege landet auf meinem Arm. Symbiose oder Parasitismus? Sie trinkt mich, ich erschlage sie nicht. Noch nicht. Der Morgenkaffee schmeckt nach Blech. Mein Spiegelbild sieht aus wie eine billige Fälschung meiner selbst. Die Nachrichtenstimme aus dem Radio könnte genauso gut vom Mars berichten. Klimakatastrophe, wieder mal. Als ob wir das nicht am eigenen Leib spüren würden. Hundstage – früher ein astronomisches Phänomen, heute ein sadistisches Dauerprogramm. Die Stadt erwacht widerwillig. Menschen taumeln zur Arbeit wie Figuren in einem Beckett-Stück. Absurd. Niemand sieht den anderen an. Alle teilen dieselbe Schwüle und tun so, als wären sie allein damit. Mein Hemd: schon jetzt ein feuchtes Manifest der Sinnlosigkeit. Im Büro kämpfen Klimaanlage und Sonne einen Stellungskrieg. Die Klimaanlage verliert. Schmidt von der Buchhaltung trägt eine Krawatte. Masochist oder Traditionalist? Die Grenze verschwimmt. Meine Gedanken schweifen ab wie Schmetterlinge auf Speed. Konzentration ist ein Luxusgut in dieser Hitze. Mittagspause. Die Bank im Park: ein Backofen aus Holz. Mein Sandwich schmeckt nach warmer Luft. Ein Kind schreit vor Freude am Brunnen. Beneidenswert. Seine Mutter fächelt sich mit einer Zeitschrift Luft zu – Schlagzeile: „Hitzerekord erwartet“. No shit, Sherlock. Die Zeit dehnt sich wie Kaugummi. Meine Augenlider werden schwer. Der Bildschirm: ein hypnotisches Nichts. Jemand lacht im Nebenzimmer. Worüber kann man heute lachen? Vielleicht über uns alle, wie wir so tun, als wäre dies ein normaler Tag. Der Chef läuft vorbei, nickt. Wir spielen alle dieselbe Komödie. Feierabend. Die Stadt steht still. Die Luft flimmert über dem Asphalt wie ein schlechter Spezialeffekt. Ein Hund liegt erschöpft im Schatten eines Autos. Der Namenspatron der Hundstage – reduziert auf einen keuchenden Fellhaufen. Poetische Gerechtigkeit? Zuhause. Die Wohnung: ein Treibhaus ohne Pflanzen. Ich öffne alle Fenster. Als würde das helfen. Der Kühlschrank brummt wie ein sterbendes Tier. Darin: ein einsames Bier und vergessener Käse. Abendessen der Champions. Die Sonne sinkt, die Hitze bleibt. Fernsehen: Menschen in klimatisierten Studios diskutieren über die Hitze. Realitätsverlust als Berufskrankheit. Ich zappe durch 50 Kanäle und sehe immer dasselbe. Ein Anruf von Mutter. „Trink genug“, sagt sie. Als wäre ich acht. Vielleicht bin ich das, wenn es um Selbstfürsorge geht. Die Nachbarn streiten. Die Hitze macht aus allen Beziehungen Zündstoff. Ich höre Türknallen, dann Stille. Schlimmer als Geschrei. Die Straßenlaterne wirft gespenstische Schatten. Ich sitze am offenen Fenster und beobachte die Nacht. Ein Käfer umkreist die Lampe in meinem Zimmer. Wir beide: gefangen in sinnlosen Kreisläufen. Schlaflosigkeit kündigt sich an wie ein ungebetener Gast. Mein Kopfkissen: ein Heizstein. Ich drehe es um – kurze Erleichterung, dann wieder Glut. Draußen hupt jemand. Um diese Zeit? Der Wahnsinn schleicht sich ein, wenn die Temperatur nicht sinkt. Mitternacht ist vorbei und mit ihr jede Hoffnung auf Abkühlung. Ich stehe auf, trinke lauwarmes Wasser aus der Leitung. Der Mond grinst durchs Fenster wie ein kosmischer Spötter. Die Stadt atmet schwer, ein kollektives Röcheln unter der Decke der Schwüle. Halbschlaf. Gedankenfetzen wie Konfetti im Wind. War das ein Traum oder eine Erinnerung? Die Grenzen verschwimmen. Eine Sirene in der Ferne. Jemand hat einen Notfall. Oder die Stadt selbst gibt endlich auf. Aufgeschreckt aus dem Dämmerzustand. Ein Gewitter? Nein, nur Wunschdenken. Das Telefon leuchtet kurz auf. Spam-Mail um diese Zeit. Die Algorithmen schlafen nie. Beneidenswert. Die Uhr tickt. Ich zähle Sekunden statt Schafe. Die dunkelste Stunde. Oder sollte es sein. In Wahrheit ist es nie wirklich dunkel in der Stadt. Künstliches Licht verschmutzt den Himmel, wie wir die Erde verschmutzen. Poetische Symmetrie. Ich liege wach und denke an nichts und alles. Wieder wach. Oder immer noch. Die Vögel beginnen ihr Konzert, eine Symphonie der Gleichgültigkeit. Ein neuer Tag in der endlosen Kette der Hundstage. Ich blinzele ins erste Licht und frage mich, ob irgendetwas anders sein wird. Natürlich nicht. Und doch: Alles fließt, auch die Zeit in der Hitze. Selbst Sisyphos nahm irgendwann den nächsten Stein.