Kanzler Merz ruft zu mehr Arbeit auf, doch wir müssen über das Wesen des Fleißes reden. Was bedeutet Fleiß im Deutschland von 2025? Ist es die blinde Verlängerung der Arbeitszeit, oder nicht vielmehr die geschickte Nutzung unserer kostbaren Ressourcen?
Fleiß war einst die Tugend der Stunde, die Dampfmaschine des deutschen Wirtschaftswunders. Doch heute entstehen Mehrwerte anders. Sie sprießen aus Innovation, aus kluger Vernetzung, aus nachhaltigen Strukturen – nicht aus dem bloßen Mehr an Arbeitsstunden.
Schon Marx erkannte die unaufhörliche Logik der Kapitalakkumulation: Das Kapital strebt naturgemäß danach, sich zu vermehren – idealerweise durch erhöhte Arbeitslast bei gleichbleibender Entlohnung. Die divergierenden Interessen zwischen Kapitaleignern und Arbeitenden sind kein Betriebsunfall, sondern systemimmanent.
Der französische Philosoph Grégoire Chamayou würde Merz‘ Vorstoß als typisches Beispiel neoliberaler Kybernetik entlarven: Die ständige Optimierung des menschlichen Produktionsfaktors, die permanente Steigerung der Leistungskurve, die unerbittliche Quantifizierung des Arbeitssubjekts. In seiner Analyse moderner Managementregime zeigt Chamayou, wie die scheinbar sachliche Forderung nach „mehr Produktivität“ in Wahrheit ein ausgeklügeltes Machtinstrument darstellt – eines, das den Arbeitenden suggeriert, sie seien selbst für die strukturellen Krisen des Kapitals verantwortlich.
Der Wirtschaftsphilosoph Marc Neumann bringt es auf den Punkt: „In der digitalen Ökonomie entsteht Mehrwert nicht durch Schweißperlen, sondern durch Geistesblitze.“ Ein Konzept, das Merz in seiner Rückwärtsgewandtheit offenbar entgangen ist.
Während in Fernost das Wu wei längst als Produktivitätsgeheimnis erkannt wurde – das scheinbare Nicht-Handeln, das aus tiefem Verständnis natürlicher Prozesse entspringt – predigt unsere Regierung den überholten Katechismus der Mehrarbeit. Eine Ideologie, die Chamayou als „algorithmischen Gouvernementalität“ bezeichnen würde: die Reduktion komplexer sozialer Zusammenhänge auf die simple Formel „Input = Output“.
Merz‘ Vorstoß ist kein Dialog mit den Arbeitenden, sondern ein Angriff auf ihr Selbstverständnis. Als wären nicht sie es, die täglich den Mehrwert schaffen. Als hätten nicht sie schon längst die Grenze dessen erreicht, was die Arbeitskraft zu geben vermag, während die Früchte ihrer Arbeit in den Kreisläufen der Kapitalakkumulation versickern.
Die wahre Kunst des Fortschritts liegt nicht im Mehr, sondern im Besser. Der echte Mehrwert entsteht nicht durch Überstunden, sondern durch Überdenken verkrusteter Machtstrukturen und, wie Chamayou es formulieren würde, durch Widerstand gegen die „permanente Leistungsdiagnostik“ unserer Arbeitswelt.
Wir müssen reden, Herr Kanzler – aber nicht über mehr Arbeitszeit, sondern über ein Wirtschaftssystem, das nicht systematisch die Interessen des Kapitals über die der Arbeitenden stellt.