Digitales Mindset

Und bist du nicht willig,
brauche ich Gewalt

Die digitale Transformation hat in den vergangenen Jahren wie ein unaufhaltsamer Virus die Unternehmenswelt erfasst. Ja, wir leben im Zeitalter der Digitalisierung, und scheinbar sind alle darauf aus, ihre Mitarbeitenden in digitale Superhelden zu verwandeln. Doch bevor wir uns in den Sog dieser euphorischen Zukunftsvisionen stürzen, werfen wir einen kritischen Blick auf den Anspruch, den die Apologeten der Digitalität in den sozialen Medien propagieren, dass ein „digitales Mindset“ mehr ist als nur technologische Affinität.

Das digitale Mindset sei keine Frage des Alters oder der IT-Kenntnisse – es beziehe sich vielmehr auf die grundlegende Einstellung zur digitalen Welt. In den einschlägigen Foren, Plattformen und Konferenzen hört und liest man davon, dass Menschen mit einem digitalen Mindset …

… in Chancen denken statt in Risiken, wenn es um neue Technologien geht.
… lernbereit sind und offen für Veränderungen.
… iterativ arbeiten, anstatt auf perfekte Lösungen zu warten.
… vernetzt denken und kollaborativ, statt Silodenken zu fördern.
… den Kundennutzen in den Mittelpunkt stellen.

Klingt das nicht einfach wunderbar? Es braucht doch nur ein bisschen Offenheit, nicht wahr? Wie schön könnte doch die Welt sein!

Der Ruf nach Digitalisierung hallt durch die Gassen, die Bürokorridore, die Homeoffices, die Teams-Meetings und Zoom-Konferenzen. Es klingt fast wie ein Stossgebet: „Bitte, lasst uns die Probleme mit ein paar Klicks lösen!“
Digitalisierung spart Zeit, so die Versprechen der Berater-Gilde. Ihr müsst nur eure Abläufe ein wenig anpassen. Also einfach digitaler werden. Der Preis? Die allgemeine Abwertung bisheriger Arbeit. Das nennt sich Transformation. Das ist nun mal so. Die Beschleunigung der Prozesse, egal welcher. Hauptsache schneller, effizienter. Der Musk macht uns das doch vor! Kettensäge raus, zack, Neue Welt. So geht das.

Bye bye Demokratie

Die Kehrseite der Acceleration ist die Erodierung demokratischer Prozesse und gleichzeitig die Erstarkung autokratischer Systeme. Meinungsbildung benötigt Zeit. Die nimmt man uns. Es bleibt kaum noch Luft zum Durchatmen. Danke „digitales Mindset“.

Doch Schluss mit den Bedenken. Die Zukunft ist rosig. Keine Bürokratie mehr. Ein Siegeszug der Effizienz. Sagt auch das Internet! Also bitte flugs zum digitalen Mindset. Die Welt verändert sich so oder so. Und mit diesem tollen neuen Mindset bist du gewappnet. Klingt irgendwie aber auch nach „same same but different“, also nach Anforderungen, die auch ohne die Daumenschraube digitales Mindset bestehen. Tolle neue Offenheit, die von den Mitarbeitenden eingefordert wird. Der Haken: Mitarbeitende werden dazu gedrängt, eine Haltung einzunehmen, die so offen ist, wie eine Bücherei, in der das Wort ordnungsgemäß eine verborgene, richtig: eine repressive Bedeutung hat. Die Einladung in diese neue, in diese digitale Welt, die so freundlich und offen daherkommt, wird scheinbar weniger als Einladung denn als subtile Drohung ausgesprochen: „Legt eure Zweifel ab, eure Zustimmung ist die einzig akzeptable Antwort!“

Die entscheidende Frage lautet: Wollen wir das? Ist das wirklich förderlich? Ist diese Form von Offenheit wirklich erstrebenswert? Wenn das Ergebnis bereits feststeht, bevor überhaupt ein Dialog begonnen hat, dann handelt es sich um eine falsche Herzlichkeit. Es wird eine Form von scheinbarer Offenheit gefordert, die im Kern nichts anderes als ein Zwang zur Konformität, zur Uniformität ist. Wir sind dazu angehalten, eine positive Einstellung zu bewahren und jede Skepsis mit einem Lächeln zu kaschieren. Schließlich müssen wir ja die „kulturelle Transformation“ unterstützen – auch wenn das bedeutet, einen mentalen Handstand zu vollziehen.

Digitalität ist der Heilsbringer

Wenn Mitarbeitende in Workshops und Schulungen dazu gedrängt werden, ihre Bedenken zu unterdrücken, um die Aura der Digitalität nicht zu stören, wenn Seminare und Webinare dazu animieren, den gesunden Menschenverstand ad acta zu legen, stellt sich die Frage: Handelt es sich hier um echte Innovation, die den Mitarbeitenden dient oder lediglich um geschickt verschleierte Manipulation? Der Zwang zur Offenheit führt in der Regel nur zu oberflächlicher Zustimmung unter Druck, nicht zu echtem Engagement. So reißen wir keinem vom Hocker, wir locken keinen hinter dem Ofen hervor.

Die Idee, Mitarbeitenden zu einem digitalen Mindset zu verhelfen, zeugt zudem von einem kruden Menschenbild, das den Menschen als Maschine betrachtet, die einfach manipuliert werden kann. Man muss nur ein paar Schrauben festziehen, und schon läuft es. Diese Sichtweise ignoriert die Komplexität und Individualität des Menschseins. Der Glaube, dass wir alle das gleiche digitale Schicksal teilen und alle in genau die gleiche Richtung gedrängt werden sollten, ist sowohl naiv als auch gefährlich.

Self Empowerment

Selbstentwicklung und Wachstum zählen zu den Bereichen, die Menschen am meisten Befriedigung verschaffen. Wenn jedoch die Möglichkeit zur individuellen Entfaltung durch einen Zwang zur Konformität ersetzt wird, wird diese menschliche Grundlage untergraben. Statt ein Umfeld zu schaffen, in dem jeder Einzelne gedeihen kann, verwandelt sich der Arbeitsplatz in einen Maschinenraum, in dem individuelle Nuancen einer digitalen Norm geopfert werden.

Die Vorstellung, dass ein „digitales Mindset“ bedeutet, alles mit einem Lächeln zu akzeptieren – das ist kein Fortschritt, sondern eine Farce! Was wir wirklich benötigen, ist eine breit angelegte Diskussion und den Mut und den Willen, auch Kritik zuzulassen. Seine Denkweise zu ändern, seine Einstellung, seine Grundwerte, dazu braucht es Mut. Und Überzeugung. Doch wozu? Um dem kritischen Denken den Laufpass zu geben? Oder einfach um uns Blitzdingsen zu lassen, wie bei „Men in Black“? Das nannte sich einmal Gehirnwäsche.

Gute Führung

Letztlich müssen wir erkennen, dass nicht alle Ideen und Vorschläge immer begeistert aufgenommen werden müssen und dass echte Offenheit auch bedeutet, unterschiedliche Meinungen zuzulassen.
Gute Führung handelt entsprechend, formuliert Angebote und greift nur ein, wenn das Wohl der Organisation auf dem Spiel steht. Sie bleibt gelassen und ungeschäftig. Gute Führung kennt kein Mikromanagement, will nicht das Denken der Mitarbeitenden manipulieren und ist sich ihrer Kultur, die sie zum Erfolg geführt hat, bewusst. Gute Führung handelt, wenn die Probleme noch klein sind. So bleibt sie im Fluss. Sie transformiert sich fließend.
Wenn die Vorstellung wegfällt, wie sich richtig von falsch unterscheidet, ist der Weg frei für Entwicklung. Diese Balance zwischen Offenheit und Skepsis ist der Schlüssel, um die digitale Transformation tatsächlich voranzubringen, anstatt sie in ein Spiel von Zustimmung und Anpassung zu verwandeln. Gute Führung denkt nicht in Differenzen, sondern in Abständen. Sie nimmt den Abstand zwischen den Meinungen wahr und kann in und mit diesem „Zwischen“ agieren. Sie verringert den Abstand so, dass es passt. Denn sie weiß, dass es am Ende des Tages die Menschen sind, die wirklich den Unterschied machen – nicht die Technologien.