Indigenialität als Antwort auf die Zivilisationsfalle

Indigenialität und Wuwei

Indigenialität als Antwort auf die Zivilisationsfalle

Von Heideggers Romantisierung zu Webers radikalem Pragmatismus

Zwischen Wellness-Kitsch und völkischer Verklärung

Das Problem ist bekannt: Wer heute ernsthaft über „Natürlichkeit“ redet, landet schnell zwischen Esoterik-Ständen und autoritären Ursprungsmythen. Heideggers „Eigentlichkeit“ führte direkt zur NSDAP-Mitgliedschaft, und wer Wu Wei googelt, findet meist Achtsamkeits-Apps statt Dōgens radikaler Praxis. Zwischen romantischer Zivilisationsflucht und technokratischem Reduktionismus klafft eine Lücke, die politisch brisant ist: Wie kritisiert man die Moderne, ohne reaktionär zu werden?

Die Diagnose ist alt, die Therapie umstritten: Unsere technische Zivilisation hat uns von etwas Wesentlichem getrennt, das wir nur unscharf „Natur“ oder „ursprüngliche Lebendigkeit“ nennen können. Während Heidegger diese Entfremdung in völkische Romantik münden ließ1 und postmoderne Taoismus-Rezeption oft in esoterische Beliebigkeit abdriftet, entwickelt Andreas Weber mit seinem Konzept der „Indigenialität“ eine Alternative: konkret fundiert, aber nicht reduktionistisch, naturverbunden, aber nicht nostalgisch.

Liedloffs Kontinuum-Problem

Jean Liedloffs „Kontinuum-Konzept“ basiert auf einer simplen, aber folgenreichen Beobachtung: Die Yequana-Indianer erziehen ihre Kinder anders als wir, und diese Kinder scheinen ausgeglichener, selbstregulierter, weniger neurotisch zu sein. Liedloffs These: Jeder Mensch trägt evolutionär gewachsene Erwartungen in sich – ein „Kontinuum“ –, das definiert, welche Erfahrungen für gesunde Entwicklung nötig sind.

Das Problem liegt nicht in der Beobachtung, die empirisch durchaus stichhaltig ist, sondern in ihrer theoretischen Überhöhung. Liedloff projiziert moderne Zivilisationsunzufriedenheit auf indigene Kulturen und macht sie zu Trägern einer verlorenen Authentizität. Diese Indigenenromantik übersieht die Komplexität sowohl moderner als auch traditioneller Gesellschaften und läuft Gefahr, in kulturellen Primitivismus zu münden.

Heideggers Naturmystik

Heideggers „Geworfenheit“ diagnostiziert die moderne Entfremdung präzise: Wir sind in eine Welt „hineingeworfen“, die uns fremd geworden ist, abgeschnitten von „eigentlichem“ Sein. Seine Lösung jedoch – die Rückbesinnung auf „bodenständige“ Authentizität und die Kritik am anonymen „Man“ – öffnet autoritären Ideologien Tür und Tor.

Die Parallele zu Liedloff ist offensichtlich: Beide idealisieren einen „ursprünglichen“ Zustand, beide kritisieren die moderne Komplexität als Verfall, beide suchen Heilung in der Rückkehr zu etwas angeblich Authentischerem. Heideggers spätere Nazi-Sympathien zeigen, wohin solche Ursprungssehnsucht führen kann, wenn sie nicht durch wissenschaftliche Präzision und demokratische Reflexion gebremst wird.

Zen-Pragmatismus versus Romantisierung

Interessant wird der Kontrast zu authentischer taoistischer und Zen-Praxis: Dōgens „Anweisungen für den Tenzo“ behandeln Küchenarbeit als vollständige spirituelle Praxis – ohne jede Flucht in idealistische Gegenwelten. Reis waschen ist Zen, nicht die Erinnerung an eine „ursprünglichere“ Zeit.

Westliche Taoismus-Rezeption extrahiert dagegen oft die „mystische“ Dimension, während sie die konkrete, unsentimentale Praxis ignoriert. Wu Wei wird zu passiver Weltflucht verklärt, statt als das verstanden zu werden, was es ist: radikale Responsivität ohne ideologische Vorannahmen.

Webers biosemiotische Synthese

Andreas Weber gelingt mit seinem Indigenialitäts-Konzept2 eine bemerkenswerte Synthese: Er behält Liedloffs empirische Beobachtungen bei, vermeidet aber deren romantisierende Interpretation. Weber definiert Indigenialität als „sich als aktiven Teil eines sinnvollen Ganzen zu verstehen und so zu handeln, dass die eigene Lebensqualität die des Ganzen steigert“.

Seine vier Allmende-Prinzipien – wir sind Erde, alles beruht auf Gegenseitigkeit, alles hat Innerlichkeit, wir müssen die Erde fruchtbar halten – sind nicht nostalgische Projektionen, sondern wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse aus Biosemiotik, Komplexitätstheorie und Ökologie.

Der entscheidende Unterschied zu Heidegger und romantisierenden Ansätzen: Weber argumentiert nicht vom verklärten „Ursprung“ her, sondern von aktueller Wissenschaft aus. „Alles hat Innerlichkeit“ meint nicht esoterische Beseelung, sondern biosemiotische Subjektivität – die mittlerweile durch Forschung zu Pflanzenneurobiologie und Mikrobiom-Studien gestützt wird.

Praktische Konsequenzen

Was bedeutet das konkret? Statt nostalgischer Regression zu „natürlichen“ Zuständen oder verkrampfter Achtsamkeits-Performance fordert Weber – und hier zeigt sich der Zen-Einfluss – eine schlichte Behutsamkeit für das, was ist.

Nicht „zurück zur Natur“, sondern responsive Teilnahme an dem, was Weber das „große Gespräch zwischen allen Dingen“ nennt. Dieses Gespräch ist nicht metaphorisch gemeint, sondern beschreibt die tatsächlichen chemischen, physikalischen und biologischen Austauschprozesse, die alles Leben verbinden.

Der politische Horizont

Webers Indigenialität ist damit mehr als Lebensphilosophie – sie ist politisches Programm. Die Allmende-Ökonomie, die er vorschlägt, basiert auf den „Regeln der Ehrenvolle Ernte“: Nimm nur was du brauchst, nimm nie mehr als die Hälfte, verwende mit Respekt, verschwende niemals, sorge für die, die für dich sorgen.

Das ist weder romantische Utopie noch technokratische Lösung, sondern präzise Übersetzung indigener Praktiken in zeitgenössische Kontexte. Dabei vermeidet Weber sowohl den Primitivismus der „edlen Wilden“-Romantik als auch den Reduktionismus technischer Machbarkeitsphantasien.

Fazit

Andreas Webers Indigenialität zeigt einen Weg aus der Zivilisationsfalle, der weder in Heideggersche Bodenständigkeits-Mystik noch in postmoderne Beliebigkeit führt. Seine biosemiotische Fundierung macht das Konzept immun gegen völkische Vereinnahmung, während es gleichzeitig die realen ökologischen und sozialen Herausforderungen ernst nimmt.

Die Lehre für zeitgenössische Naturphilosophie: Nur intellektuelle Redlichkeit3 schützt vor den autoritären Versuchungen der Ursprungssehnsucht. Indigenialität, so verstanden, ist nicht Rückkehr zu einem goldenen Zeitalter, sondern Entwicklung einer „ökologischen Lebenskunst“ für das Anthropozän – eine Kunst, die weder die Komplexität der Moderne verleugnet noch ihre zerstörerischen Tendenzen ignoriert.

Fußnoten

¹ Die Evidenz für Heideggers völkische Verstrickung ist mittlerweile erdrückend: von seiner NSDAP-Mitgliedschaft ab 1. Mai 1933 (Hugo Ott: Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt a.M. 1988, S. 144f.) über die Rektoratsrede „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (GA 16, 2000) bis zu den antisemitischen Äußerungen in den Schwarzen Heften (GA 94-96, 2014-15); grundlegend dazu Victor Farias: Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1989; Emmanuel Faye: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie, Berlin 2009; Richard Wolin: On Heidegger’s Nazism and Philosophy, Berkeley 1993 sowie ders.: Heidegger in Ruins, New Haven 2023 – eine Quellenlage, die selbst hartgesottene Heidegger-Apologeten mittlerweile vom reinen Apologetismus zu schadensbegrenzenden Interpretationsstrategien hat übergehen lassen, was die historischen Fakten letztlich nur bestätigt.

² Andreas Weber: Indigenialität, Berlin 2018; ders.: Enlivenment. Eine Kultur des Lebens, Berlin 2016; zur biosemiotischen Fundierung siehe ders.: Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften, Berlin 2007 – Weber gelingt mit seinem Indigenialitäts-Konzept („sich als aktiven Teil eines sinnvollen Ganzen zu verstehen und so zu handeln, dass die eigene Lebensqualität die des Ganzen steigert“) eine bemerkenswerte Synthese aus empirischer Beobachtung und wissenschaftlicher Präzision, die sowohl Liedloffs romantisierende Kontinuum-Projektionen als auch Heideggers völkische Authentizitäts-Mystik vermeidet, indem sie nicht vom verklärten „Ursprung“, sondern von aktueller Biosemiotik, Komplexitätstheorie und Ökologie ausgeht – eine intellektuelle Leistung, die zeigt, wie Zivilisationskritik ohne autoritäre Versuchungen formuliert werden kann.

³ Zur Kritik naiver Wissenschaftsgläubigkeit siehe Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1987 – Geertz zeigt, dass auch die „harten“ Wissenschaften kulturell kodierte Interpretationssysteme sind, nicht neutrale Wahrheitsfinder; seine ethnographische Methode der „thick description“ demonstriert, wie man empirisch präzise arbeiten kann, ohne in szientistische Hybris zu verfallen – eine methodische Parallele zu Webers Ansatz, der biosemiotische Erkenntnisse nutzt, ohne sie zu Weltanschauungs-Ersatz aufzublähen, wodurch er sowohl romantische Wissenschaftsfeindschaft als auch technokratischen Reduktionismus umgeht.