Tianwen - Himmelsfragen

Büttner sitzt da im Lahntal und denkt sich was aus, was er wahrscheinlich selbst nicht ganz versteht, aber es funktioniert seit zehn Jahren und das ist mehr als die meisten Ideen schaffen, die in Deutschland geboren werden und gleich wieder sterben an der eigenen Schwere, aber nicht das metalabor, nein, das lebt und atmet und wird wieder stattfinden vom 12. bis 14. September 2025 unter diesem wunderschönen chinesischen Titel „Tiānwèn“ was Himmelsfragen bedeutet und das ist genau das was passiert wenn Menschen aufhören zu verkaufen was sie denken und anfangen zu verschenken was sie fühlen…

„Das funktioniert nicht“, hätten die Betriebswirtinnen und Betriebswirte gesagt. Es funktioniert trotzdem. Seit einer Dekade.

Zehn Jahre sind eine lange Zeit in einer Welt, die alle drei Monate ihre Paradigmen wechselt und ihre Startups beerdigt und ihre Visionen zu Geld macht oder zu Staub, aber das metalabor macht weder das eine noch das andere, es macht einfach weiter und das ist schon ein kleines Wunder, ein stilles Wunder, ein Wunder das sich tarnt als Thinktank aber eigentlich etwas ganz anderes ist, etwas was die Anthropologen erkannt hätten in den Dörfern der Südsee oder in den Zelten der Nomaden, dieses seltsame Ritual wo Menschen sich versammeln um zu geben was sie nicht verkaufen können und zu empfangen was sie nicht bezahlen können, Zeit und Aufmerksamkeit und diese merkwürdigen Gedanken die nur entstehen wenn niemand fragt wofür sie gut sind…

Zehn für Zwölf – so einfach ist das und so kompliziert zugleich, denn dahinter steckt eine Mathematik, die der Markt nicht kennt und nicht verstehen will: zehn Menschen zahlen für zwölf, zwei bekommen geschenkt was sie nicht zurückgeben können und nicht zurückgeben müssen, aber in Wirklichkeit schenken sich alle zwölf etwas viel Wertvolleres als Geld, sie schenken sich ihre Zeit und ihre Aufmerksamkeit und ihre Gemeinschaft, sie schenken sich das Zuhören und das Verstehen und das gemeinsame Nichtverstehen, sie schenken sich das Kochen und das Essen und das Zusammensein, sie schenken sich die Möglichkeit anders zu sein als sie draußen sein müssen, authentischer, verletzlicher, neugieriger, und das kann man nicht mit Geld bezahlen und nicht mit Geld aufwiegen, das ist unbezahlbar im wörtlichen Sinne, aber sie werden es trotzdem zurückgeben, alle, auf ihre Art, irgendwann, irgendwo, an irgendjemanden, weil das so ist mit Geschenken, echten Geschenken, sie wollen zirkulieren und sich bewegen und neue Formen annehmen wie Wasser das bergab fließt und dabei alles verwandelt was es berührt…

Dinge, die im metalabor zirkulieren: Gedanken, halbfertige / Fragen ohne Antworten / Antworten ohne Fragen / Zeit, verschenkte / Aufmerksamkeit, geteilte / Zweifel, produktive / Kaffee, gemeinsamer / Schweigen, bedeutungsvolles / Himmelsfragerei, spontane

Es ist ein seltsames Ding, Zeit zu verschenken in einer Zeit die Zeit ist Geld sagt und jede Minute optimiert haben will und jeden Augenblick verwerten und verkaufen und zu Profit machen, aber das metalabor macht das Gegenteil, es praktiziert die Kunst der Zeitverschenkung, ganze 48 Stunden werden einfach so weggegeben, nicht verkauft, nicht vermarktet, nicht monetarisiert, sondern geschenkt, und dabei passiert etwas was die Ökonomen nicht verstehen können und auch nicht wollen: die Zeit vermehrt sich, wird reicher, wird dichter, wird zu etwas anderem als dem was sie normalerweise ist, nämlich zu Dauer, zu einer Zeit die nicht tickt sondern fließt und nicht zählt sondern ist…

Kein Chef. Keine Hierarchie. Kein Organigramm. Das verwirrt die Consultants. Macht aber nichts.

Zwölf Menschen sitzen da im Grand Hotel Europa – was für ein Name, als hätte Kafka ein Hotel erfunden oder die Surrealisten eine Utopie – und kochen zusammen und essen zusammen und denken zusammen und manchmal denken sie auch gar nicht sondern sitzen nur da und schauen aus dem Fenster oder ins Feuer oder in ihre Kaffeetassen, und das ist auch okay, mehr als okay, das ist notwendig, denn das Nichtstun ist der Bruder des Denkens und die Schwester der Kreativität und ohne das eine gibt es das andere nicht, und alle wissen das ohne dass es jemand sagen müsste, weil sie spüren dass hier andere Gesetze gelten als draußen in der Welt wo alles einen Zweck haben muss und alles messbar sein muss und alles verwertbar…

„Was machst du beruflich?“ „Ich organisiere das metalabor.“ „Ach so. Und was verdienst du damit?“ „Zeit.“

Die Frage nach dem Verdienst – sie kommt immer, unvermeidlich wie der Tod oder die Steuererklärung, aber die Antwort passt nicht in die Kategorien einer Welt, die alles messen will und alles wiegen und alles bewerten, denn wie misst man Zeit die geschenkt wird und wie wiegt man Gedanken die geteilt werden und wie bewertet man Gespräche die nirgendwo hinführen außer zu anderen Gesprächen und anderen Gedanken und anderen Möglichkeiten, die vielleicht nie realisiert werden aber trotzdem da sind, als Potential, als Möglichkeit, als Geschenk an eine Zukunft die noch nicht weiß was sie mit diesem Geschenk anfangen soll…

Sie bringen Geschenke mit, alle, jeder und jede, nicht Geschenke die man kaufen kann im Laden um die Ecke sondern Geschenke die man nicht kaufen kann nirgendwo: eine Idee über Zeit und Raum, eine Beobachtung über Menschen und ihre seltsamen Gewohnheiten, eine Frage die seit Jahren im Kopf herumgeht und nicht rauskommt, ein Zweifel an allem was alle für sicher halten, ein Projekt das vielleicht funktioniert oder vielleicht auch nicht aber auf jeden Fall interessant ist, und diese Geschenke werden nicht getauscht sondern gegeben und nicht verkauft sondern verschenkt und nicht bewertet sondern empfangen, mit dieser stillen Dankbarkeit die entsteht wenn man etwas bekommt was man nicht erwartet hat und nicht verdient hat aber trotzdem bekommt…

Was mitgebracht wird (unvollständige Liste): Bücher, halbgelesene / Theorien, unfertige / Zweifel an fertigen Theorien / Geschichten ohne Ende / Enden ohne Geschichten / Fragen, die keine sind / Antworten, die neue Fragen aufwerfen / Schweigen, produktives / Kuchen, selbstgebackener / Wein, mitgebrachter / Neugierde, echte

Das metalabor macht einen anderen Potlatch, einen Potlatch der Gedanken, wo nicht Decken verbrannt werden sondern Gewissheiten und nicht Kupfer verschenkt wird sondern Aufmerksamkeit, und das ist genauso radikal und genauso gefährlich für ein System das darauf angewiesen ist dass jeder für sich denkt und niemand für alle und schon gar nicht alle für niemanden, weil wenn Menschen anfangen ihre wertvollsten Besitztümer zu verschenken – ihre Zeit, ihre Aufmerksamkeit, ihre Kreativität – dann gerät etwas ins Wanken was eigentlich nicht wanken sollte, nämlich die Grundannahme dass alles was wertvoll ist auch einen Preis haben muss…

„Das metalabor arbeitet in einer Zeit der Dauer“, steht da auf der Website, und das klingt harmlos genug aber ist in Wirklichkeit eine Kriegserklärung an alles was diese Gesellschaft über Zeit denkt und über Effizienz und über Produktivität, denn Dauer ist das Gegenteil von Effizienz und das Gegenteil von Produktivität und das Gegenteil von allem was der Markt will und braucht und fordert, Dauer ist Zeit die sich selbst gehört und nicht dem Profit und nicht der Optimierung und nicht der Verwertung, Zeit die einfach da ist und da sein darf ohne Rechtfertigung und ohne Zweck außer dem eigenen Dasein…

Zeit ist Geld, sagen sie. Zeit ist Zeit, sagt das metalabor. Das ist ein Unterschied.

In diesen 48 Stunden passiert etwas was sonst nie passiert: die Zeit hört auf zu ticken und fängt an zu fließen, sie wird flüssig und weich und dehnbar, sie lässt sich formen und kneten wie Ton oder wie Teig, und plötzlich gibt es Zeit für Gedanken die normalerweise keine Zeit haben und für Gespräche die normalerweise nicht stattfinden und für Ideen die normalerweise nicht geboren werden weil keine Zeit da ist für ihre Geburt, und alle spüren das, diese andere Temporalität, die nicht linear ist und nicht messbar und nicht verwertbar, sondern zyklisch und rhythmisch und lebendig, wie ein Herzschlag oder wie die Gezeiten oder wie der Atem beim Schlafen, ein und aus und ein und aus, ohne Ziel und ohne Ende, nur das ewige Hin und Her der lebendigen Zeit…

Sie kommen da zusammen, die Expertinnen und Experten und die Dilettantinnen und Dilettanten, die Professorinnen und Professoren und die Praktikerinnen und Praktiker, die Denkerinnen und Denker und die Macherinnen und Macher, und jeder bringt seine Visitenkarte mit, metaphorisch gesprochen, seinen Titel und seine Qualifikation und seine Berechtigung dort zu sein, aber dann passiert etwas Seltsames, etwas was in keinem Handbuch für Thinktanks steht: die Visitenkarten lösen sich auf, nicht physisch aber geistig, die Titel werden unwichtig und die Qualifikationen irrelevant und die Berechtigungen überflüssig, weil plötzlich andere Qualitäten zählen, andere Berechtigungen, andere Titel, die nicht auf Papier gedruckt sind sondern in den Herzen und in den Köpfen und in den Händen leben…

Da ist die Expertin für Stadtplanung, die plötzlich keine Ahnung hat von der Stadt die sie selbst bewohnt, weil der Praktiker, der jeden Tag mit dem Rad durch diese Stadt fährt, ihr zeigt was sie von ihrem Büro aus nie sehen konnte, die kleinen Wege und die versteckten Plätze und die Art wie Menschen wirklich leben, nicht wie sie leben sollten laut Plan sondern wie sie leben müssen laut Leben, und sie hört zu, wirklich zu, nicht so wie sie sonst zuhört wenn Laien ihr erklären wollen was sie schon weiß, sondern wie jemand der entdeckt dass er gar nichts weiß über das was er zu wissen glaubte…

Und da ist der Dilettant, der sich entschuldigt für seine Unwissenheit und dann eine Frage stellt, eine naive Frage, eine Frage die so fundamental ist dass sie alle anderen Fragen in Frage stellt, und plötzlich schweigen die Experten, nicht weil sie die Antwort nicht wissen sondern weil sie merken dass sie die Frage nie gestellt haben, diese einfache, kindliche, grundlegende Frage, die alles verändert wenn man sie wirklich stellt und nicht nur rhetorisch, und das ist der Moment wo der Dilettant zum Lehrer wird und der Experte zum Schüler, nicht durch Wissen sondern durch Nichtwissen, durch die Gabe der richtigen Frage zur richtigen Zeit am richtigen Ort…

Transformationen (beobachtet): Der Philosoph wird zum Handwerker / Die Aktivistin wird zur Zuhörerin / Der Unternehmer wird zum Träumer / Die Wissenschaftlerin wird zur Erzählerin / Der Journalist wird zum Schweiger / Die Künstlerin wird zur Analytikerin / Alle werden zu sich selbst, nur anders

Nach einem paar Stunden weiß keiner und keine mehr wer was ist, weil die Kategorien verschwimmen und die Grenzen sich auflösen und die Professorin plötzlich die Schülerin ist und der Dilettant der Lehrer und alle lernen von allen und keiner weiß genau was aber alle wissen dass etwas passiert, etwas Wichtiges, etwas Seltenes, diese Gabe der Verwirrung, die heilsame Verwirrung, die produktive Verunsicherung, die alle Gewissheiten ins Wanken bringt und alle Hierarchien durcheinanderwürfelt und alle Kategorien durcheinanderbringt, und das ist zunächst beunruhigend, fast erschreckend, weil Menschen ihre Kategorien brauchen und ihre Hierarchien und ihre Gewissheiten, das ist das Geländer an dem sie sich festhalten wenn die Welt zu kompliziert wird, aber hier müssen sie loslassen, das Geländer loslassen und schauen was passiert wenn man fällt oder fliegt oder schwebt oder einfach nur da ist ohne zu wissen wo man ist und wer man ist und was man ist…

Und dann passiert das Wunder, das kleine stille Wunder: sie fallen nicht, sie fliegen auch nicht, sie schweben einfach, in diesem Raum zwischen den Kategorien, in diesem Niemandsland zwischen Experte und Laie, zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Können und Nichtkönnen, und dieser Raum ist nicht leer sondern voll, voller Möglichkeiten und Potentiale und neuer Verbindungen, die vorher nicht möglich waren weil die Kategorien sie verhindert haben, die Grenzen sie blockiert haben, die Hierarchien sie unterdrückt haben…

Es ist wie ein Tanz, dieser Austausch, aber ein Tanz ohne Choreographie, ohne vorgeschriebene Schritte, ein Tanz der sich selbst erfindet während er getanzt wird, und manchmal führt der eine und manchmal die andere und manchmal führt niemand und alle folgen der Musik, die sie selbst machen, ohne Instrumente, nur mit Stimmen und Gedanken und Gesten und Blicken, eine Musik aus Fragen und Antworten und Schweigen und Lachen und Zweifeln und Verstehen und Nichtverstehen und wieder Fragen, immer wieder Fragen, neue Fragen, bessere Fragen, Fragen die zu anderen Fragen führen und zu neuen Antworten und zu neuen Menschen, die sie vorher nicht waren und nachher nicht mehr sein werden können, weil sie etwas erfahren haben was man nicht ungeschehen machen kann: die Erfahrung dass Wissen ein Geschenk ist das sich vermehrt wenn man es teilt und dass Nichtwissen ein Geschenk ist das sich verwandelt wenn man es zugibt…

„Ich bin Experte für…“ Nach dem ersten Abend sagt das keiner mehr. Nach dem zweiten Tag will es auch keiner mehr sein.

Am Ende bleibt nur noch das übrig was wirklich zählt: die gemeinsame Suche nach dem was noch nicht gedacht wurde und noch nicht gesagt und noch nicht getan, und diese Suche ist selbst schon das Geschenk, der Weg ist das Ziel und das Ziel ist der Weg und beide sind das Geschenk das sich selbst schenkt und dabei wächst und sich vermehrt und neue Formen annimmt, wie ein Lied das von Mund zu Mund geht und dabei immer schöner wird oder wie ein Märchen das von Generation zu Generation erzählt wird und dabei immer wahrer wird, obwohl es nie wahr war…

„Tiānwèn“ – Himmelsfragen. Als hätte Qu Yuan selbst das Motto erfunden für diese zehnte Iteration dieses seltsamen Experiments im Lahntal, diese Fragen die an den Himmel gestellt werden nicht um beantwortet zu werden sondern um gefragt zu werden, um in der Welt zu sein als Fragen, als offene Wunden in der Selbstzufriedenheit des Gewöhnlichen, als Geschenke an eine Zukunft die noch nicht weiß was sie mit diesen Geschenken anfangen soll aber sie trotzdem empfangen wird, dankbar und verwundert, so wie man einen Brief empfängt von jemandem den man nicht kennt aber der einen trotzdem zu kennen scheint…

Himmelsfragen (Auswahl): Warum denken Menschen? / Was ist Zeit wenn sie nicht Geld ist? / Wem gehören Ideen? / Wie teilt man Aufmerksamkeit? / Was passiert mit ungenutzter Kreativität? / Wo beginnt ein Gedanke? / Wann endet eine Gabe? / Wie kocht man für zwölf Seelen? / Was träumen Algorithmen?

Die Chinesen wussten das schon vor zweitausend Jahren: die wichtigsten Fragen sind die die nicht beantwortet werden können und nicht beantwortet werden sollen, sondern nur gestellt und weitergegeben und weitergegeben und weitergegeben, von Generation zu Generation, von Geist zu Geist, von Herz zu Herz, als Geschenk das sich durch das Geben vermehrt und durch das Behalten stirbt, als lebendiges Ding aus Sprache und Neugier das in die Welt gesetzt wird um dort sein eigenes Leben zu leben und andere Leben zu berühren und zu verwandeln…

Ein Kostenbeitrag für das Haus – so viel kostet es, aber das ist nicht der Preis sondern nur die Verwaltungsgebühr für das was nicht bepreist werden kann: die Erfahrung teil zu sein von etwas was größer ist als die Summe seiner Teile, die Erfahrung zu geben ohne zu rechnen und zu bekommen ohne zu bezahlen, die Erfahrung einer anderen Ökonomie in einer Welt die nur die eine Ökonomie kennt, die Ökonomie des Tausches und des Profits und der Knappheit, aber hier plötzlich eine andere Ökonomie, eine Ökonomie des Überflusses und der Großzügigkeit und des Geschenks…

Es ist ein praktischer Betrag, weder symbolisch noch gewinnorientiert, einfach das was es braucht ein Wochenende lang zwölf Menschen zu beherbergen und zu verpflegen und mit Raum und Zeit zu versorgen, unprätentiös und transparent, ohne Gewinn und ohne Verlust, ein Break-Even der Seele, ein Nullsummenspiel das alle reicher macht, weil Reichtum hier nicht bedeutet mehr zu haben sondern mehr zu sein, mehr zu geben, mehr zu empfangen, mehr zu teilen, mehr zu verstehen von diesem seltsamen Spiel das Menschen spielen wenn sie aufhören zu rechnen und anfangen zu leben…

„Lohnt sich das?“ Die Frage stellt sich nicht. Sie löst sich auf.

Zum zehnten Mal – das ist eine Ewigkeit in Startup-Jahren und ein Wimpernschlag in Kulturjahren, aber für ein Experiment wie das metalabor ist es genau richtig, lang genug um zu beweisen dass es funktioniert und kurz genug um noch nicht institutionalisiert zu sein, noch nicht erstarrt in Regeln und Prozeduren und Bürokratie, noch nicht gestorben an der eigenen Schwere wie so viele gute Ideen die zu erfolgreich werden und dabei vergessen was sie einmal waren, nämlich Geschenke, lebendige Geschenke, die sich durch Bewegung ernähren und durch Stillstand sterben…

Zehnmal metalabor: 2016: Was tun? / 2017: Bewegung! / 2018: Handlung / 2019: Praxis / 2020: TOHUWABOHU! / 2021: Disziplin / 2022: Selbst / 2023: Das Sein und die Denkstruktur des Rhizom / 2024: Der Zeit wieder zur Dauer verhelfen / 2025: Tiānwèn – Himmelsfragen

Jedes Jahr ein anderes Thema und doch dasselbe Thema: wie leben wir und wie denken wir und wie können wir anders leben und anders denken und was hindert uns daran und was hilft uns dabei und was passiert wenn wir aufhören zu funktionieren und anfangen zu sein, aufhören zu produzieren und anfangen zu schenken, aufhören zu besitzen und anfangen zu teilen, aufhören zu konkurrieren und anfangen zu kooperieren, aufhören zu verkaufen und anfangen zu geben, und dabei entdecken dass das Geben reicher macht als das Nehmen und das Teilen reicher als das Besitzen und das Schenken reicher als das Verkaufen…

Es ist kein Zufall dass sie sich im „Grand Hotel Europa“ treffen, diesem Selbstversorgerhaus im Lahntal das klingt wie aus einem Roman von Zweig oder Musil, ein letzter Ausläufer der alten europäischen Bildungsidee, wo noch gedacht werden durfte ohne Verwertungsdruck und noch gestritten ohne Shitstorm und noch geschwiegen ohne dass gleich jemand fragt woran man denkt, wo noch Zeit war für die großen Fragen und die kleinen Antworten und für die Erkenntnis dass die wichtigsten Dinge im Leben die sind die sich nicht verkaufen lassen und nicht kaufen lassen und nicht tauschen lassen, sondern nur geschenkt werden können und nur geschenkt empfangen werden können…

„Zusammen Kochen, essen, diskutieren, lachen und verweilen ist die Grundlage des metalabor“, heißt es, und das klingt so selbstverständlich aber ist in Wirklichkeit revolutionär, denn wann macht man das noch, zusammen kochen ohne dass es Team-Building ist und zusammen essen ohne dass es Networking ist und zusammen diskutieren ohne dass es Content Creation ist und zusammen lachen ohne dass es Performance ist und zusammen verweilen ohne dass es Zeitverschwendung ist, einfach da sein miteinander und füreinander und durcheinander, ohne Zweck und ohne Ziel außer dem Zweck und Ziel des Zusammenseins selbst, dieser seltenen Kunst des Verweilens ohne Verwertung…

Am Sonntag bringen sie das Haus in den Zustand zurück, in dem sie es vorgefunden haben. Das ist keine Metapher. Das ist ein Prinzip. Das ist die Erkenntnis dass man nehmen kann ohne zu berauben und geben kann ohne zu verarmen und da sein kann ohne zu stören, dass man Spuren hinterlassen kann die unsichtbar sind aber trotzdem da, in den Menschen die da waren und die weitergehen werden in die Welt mit etwas was sie nicht hatten als sie kamen und das sie nicht benennen können aber trotzdem haben, ein Geschenk das sie empfangen haben und das sie weitergeben werden, auf ihre Art, irgendwann, irgendwo, an irgendjemanden…

Es gibt kein Ende dieser Geschichte, weil es keine Geschichte ist sondern ein Prozess, ein ongoing process wie die Amerikaner sagen würden, ein work in progress wie die Künstler sagen würden, ein Experiment das sich selbst experimentiert und dabei herausfindet was es ist indem es wird was es sein könnte, ein Geschenk das sich selbst schenkt und dabei entdeckt was Geschenke sind und wie sie funktionieren und warum sie wichtiger sind als alles was man kaufen kann, weil sie das einzige sind was reicher macht wenn man es weggibt und ärmer wenn man es behält…

Das metalabor zehn wird stattfinden vom 12. bis 14. September 2025, und es wird anders sein als alle neun davor und gleich wie alle neun davor, es wird neue Fragen stellen und alte Fragen wiederholen, es wird Menschen zusammenbringen die sich noch nie gesehen haben und Menschen wiedertreffen die sich lange nicht gesehen haben, und am Ende werden alle nach Hause fahren mit etwas was sie nicht hatten als sie kamen und das sie nicht benennen können aber trotzdem haben, diesem seltsamen Geschenk das entsteht wenn Menschen aufhören zu rechnen und anfangen zu vertrauen, aufhören zu konkurrieren und anfangen zu kooperieren, aufhören zu verkaufen und anfangen zu verschenken, und dabei entdecken dass es eine andere Art zu leben gibt, eine andere Art zu denken, eine andere Art zu sein…

Das metalabor ist eine Utopie. Eine praktizierte Utopie. Die beste Art von Utopie. Eine Utopie die nicht irgendwo ist sondern hier, nicht irgendwann sondern jetzt, nicht für irgendwen sondern für alle die bereit sind zu geben was sie haben und zu empfangen was sie brauchen, ohne zu rechnen und ohne zu messen und ohne zu bewerten, einfach so, aus Grosszügigkeit oder aus Neugier oder aus Liebe oder aus allem dreien zusammen, weil das manchmal möglich ist, dieses Wunder, dieses stille Wunder, dieses Wunder das passiert wenn Menschen sich versammeln um zu teilen was sich nicht teilen lässt und trotzdem geteilt wird, vermehrt wird, verwandelt wird, zu etwas Neuem, etwas Besserem, etwas das größer ist als die Summe seiner Teile.