Disconnect oder der Duft der Zeit

5 Minuten Lesezeit

Allerorten liest man von Reizüberflutung, Ermüdung, Ausgebranntsein. Laut Statista steigen die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen in Deutschland stetig an. Frauen sind häufiger betroffen als Männer, so die Statistiker.

Die Vorlage für moderne Heilsversprechen: Jesus erweckt Lazarus von den Toten.
Die Vorlage für moderne Heilsversprechen: Jesus erweckt Lazarus von den Toten.

Heilsversprechen

Längst wurde dieser unsägliche Trend von Beratern, Coaches und der Wellness-Industrie aufgegriffen. Täglich wird auf den sozialen Plattformen und in den einschlägigen Magazinen eine neue Methode zur Linderung und Heilung angepriesen.
Retreat-Angebote in allen Winkeln dieser Erde laden die Ausgebrannten ein, ihre Seele zu retten und inneren Frieden zu finden.
Damit die Ausgebrannten nicht als Arbeitskraft verloren gehen, lassen sich ganz Beflissene Trends wie Workation einfallen.

Das Übel bei der Wurzel packen

Als Coach, Taiji & Qigong Lehrer, der auch mal in die Stille geht oder mal eine Nacht alleine im Wald verbringt, werde ich häufig gefragt, ob ich nicht ein Rezept habe, diesen Herausforderungen zu begegnen. Ich sei doch bestimmt gefeit vor den Unbillen der Zeit. Mitnichten, sage ich, mitnichten. Wohl aber mache ich mir Gedanken, was hilfreich sein kann. Das Übel selbst, also das Geschäftsmodell (den Kapitalismus), wie ein Beraterkollege gerne sagt, dass bekommen wir so schnell nicht geändert. Dennoch haben wir die Möglichkeit, im Kleinen Änderungen herbeizuführen und die eigene Resilienzfähigkeit zu stärken.

Zeitstrahl und zyklische Zeit

Unser Leben ist geprägt von der Vorstellung von Geburt (Anfang), Krankheit (Leiden) und Tod (Ende). Kaum sind wir auf der Welt beginnt das langsame Sterben. Unaufhörlich rasen wir dem Ende entgegen. Das Leben ist ein schneller, kanalisierter Fluss. Ein Zeitstrahl.

Doch wissen wir auch um die zyklischen Abläufe. Die Jahreszeiten, die Mondphasen, die Menstruation, der Wechsel der Elemente, der Tagesablauf. Wir sortieren diese auf unserem persönlichen Zeitstrahl ein und vergessen dabei, die Zyklen bewusst zu leben. Wir haben verlernt, die Dauer zu leben. Viele Coachingideen setzen hier an: Die Dauer zwischen zwei Momenten zu verlängern, um Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Raus aus dem Affekt, hinein ins pure Leben.

Auf meinen Qigongwanderungen lade ich die Teilnehmenden ein, den Duft der Zeit zu geniesen. Mit allen Sinnen teilzuhaben:

…Geschmack – auf welche Nahrungsmittel hat mensch besonders Appetit?

…Geruch – welcher Duft ist für diese Jahreszeit typisch?

…Gefühle – welche Gefühle werden jetzt geweckt?

…Geräusche – wenn wir der Natur lauschen, was hören wir?

…Gesichter – was sind die Farben der Saison?

…Gestalten – welche Formen nimmt die Jahreszeit an?

…Gedanken – welche mentalen Prozesse werden angeregt?

…und es braucht Geduld, denn es ist zeitaufwendig diesen Gesamtmix differenziert wahrnehmen zu können.

Disconnect

Beim Sabbatical (auch Sabbatjahr) handelt es sich um unbezahlten Sonderurlaub, den der Arbeitnehmer nach eigenem Ermessen gestaltet. In der Regel dauert das Sabbatjahr zwischen einem Monat und einem Jahr. In der Praxis wird die Länge eines Sabbaticals meist individuell zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber vereinbart. (https://www.personio.de/hr-lexikon/sabbatical/)

Für viele, oft die Privilegierten unter uns, ist das Sabbatical quasi die letzte Rettung vor dem Ausgebranntsein. Und viele kehren aus ihrem Sabbatical zurück in ihre Jobs, und nach einiger Zeit stellen sich wieder Symptome des Unwohlseins ein. Andere kehren ihrem Arbeitgeber den Rücken, suchen ihr Glück in der Selbstständigkeit oder bei einem anderen Arbeitgeber.

Disconnect

Obiges Bild stammt von einer Reise mit einem Freund, die ich 1986 unternahm. In Dr. h.c. Holger Heinzes Buchklub lernte ich, dass meine Sehnsucht nach dieser vergangenen Zeit eine Sehnsucht nach einem Zustand der Trennung, der Unterbrechung, des Ausgeschaltetsein, sein könnte.

Wie sähe heute eine Trennung, eine Unterbrechung, ein Ausgeschaltetsein aus? Lösungen wie Detoxing greifen zu kurz. Und andere Ideen wie Achtsamkeit kranken daran, dass sie dekontextualisiert auf unsere Geschäftsmodelle aufgepfropft sind. Quasi wie eine Veredelung. Doch was wird veredelt? Das Geschäftsmodell oder die eigene Gesundheit und das eigene Leben?

Welche Möglichkeiten bieten sich den Menschen, ihr Leben so zu gestalten, dass sie ihr Leben nicht auf später vertagen (die wohlverdiente Rente) und bis dahin sich von Urlaub zu Urlaub retten, von Wochenende zu Wochenende? Dass sie sich nicht schon beim Aufstehen auf den Feierabend freuen (müssen)? Kurz: Dass die freie Zeit nicht dazu genutzt werden muss, um seine Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen, sondern dazu, frei in der Zeit zu sein.

Wie lernen wir wieder so mit unseren Ressourcen umzugehen, dass wir uns nicht erschöpft von Stunde zur Stunde schleppen?

Das Arbeitsleben und der Tagesablauf müssen nicht im Heldenreisen-Modus gelebt werden. (S. dazu auch Das Ende der Heldenreise)

Struktur

Struktur fördert Routinen. Routinen stärken Verhalten. Gestärktes Verhalten fördert die Resilienz. So, sicherlich etwas verkürzt, kann man Struktur verstehen. Eine Bibliothek, die gemäß einer Ordnung strukturiert aufgebaut ist, erleichtert das Auffinden von Büchern kolossal. Ein Tag, der strukturiert ist, erleichtert das Fortkommen. Wir sehnen uns so sehr nach Struktur, dass die Reise ins Ungewisse als Dystopie wahr genommen wird. Wie beruhigend sind daher Schiffsreisen.

Auf dem Markt finden sich unzählige Strukturierungsangebote und -methoden. Sei es das Bullet Journal, oder 6-Minuten-Tagebücher. Überhaupt Tagebücher. Manche nennen sich Klarheit oder Veränderungs-Fitness. Man kann sich auch mittels Mindmap strukturieren oder mittels Conceptmap.

Doch frage ich mich: Pass ich in diese Strukturierungsvorschläge rein? Wie nachhaltig sind die Methoden für mich? Wie wirken sich die Methoden auf meinen Alltag aus? Mir persönlich gefallen die Methoden, die ich an meine spezifischen Bedürfnisse anpassen kann. Mit der Zeit stellte ich fest, dass das einfach ein leeres Blatt Papier ist und ein Stift.

Was nützt mir die schönste, die effizienteste Strukturierungsmethode, wenn sie mich in das Leben als Heldengeschichte einpfercht, statt mir den Duft der Zeit zu ermöglichen? Will ich wirklich, wie wir letztens in Holger Heinzes Buchklub diskutierten, mein Arbeitspensum verdichten (also effizienter gestalten), damit ich in weniger Stunden den gleichen Output produziere? Oder will ich mir die Freiheit erarbeiten, mit meiner Zeit frei umgehen zu können?

metalabor

Im metalabor neun widmen wir uns der Frage, wie wir der Zeit wieder zur Dauer verhelfen.

Das metalabor wurde 2019 von mir ins Leben gerufen und konstituiert sich seit dem einmal im Jahr im kleinen Ort Espenschied, in den hessischen Wudang-Bergen. Im Grand Hotel Europa (andere nennen den Versammlungsort Villa GarniX) kommen Literaten, Philosophen, Künstler und Soziologen, also Menschen wie Du und Ich, zusammen, um gemeinsam zu debattieren, zu dialogisieren, zu kochen und zu essen. Kurz: Um es sich gut gehen zu lassen.