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Herr R. hat mir seine Passion gestanden: Er fährt für sein Leben gern Motorrad. Angesichts der heutigen Bedrohung des Planeten durch die Erderwärmung ist ein solches Hobby sicher ein absoluter Anachronismus. Schließlich reicht es doch eigentlich, wenn sich die Blechlawinen täglich im Berufsverkehr über die Straßen ergießen.

Gelassen sein

Herr R. ist übrigens ein sehr reflektierter Mensch, so dass ihm all‘ die Konsequenzen seines Handelns durchaus bewusst sind. Darüber hatten wir schon einmal vor einiger Zeit gesprochen. Dass er nun zu mir kam, verdankt sich eines Erlebnisses der, aus seiner Sicht, anderen Art. Es war mir beinahe ein wenig peinlich, denn R. besuchte mich, als wäre ich ein Geistlicher. Er wollte tatsächlich beichten. Bei all meinem Unbehagen: Sein Vertrauen ehrt mich. Jedenfalls erzählte er von einer Begebenheit im frühen Herbst.

Das Duell

Er war auf Landstraßen im nahen Mittelgebirge unterwegs. Plötzlich tauchte hinter ihm einer dieser Kurierfahrer auf, die mit ihren Lieferwagen mittlerweile ziemlich sportlich unterwegs sind. R. meinte, er sei ordnungsgemäß 100 Km/h gefahren, aber der Wagen hing ihm penetrant am Hinterrad, so dass er sich genötigt sah, mit riskantem Fahrverhalten den Versuch zu unternehmen, ihn abzuhängen. Gerade mit Blick auf die Strecke aus schmalen, sehr kurvigen Straßen wollte er der Nervensäge entkommen. So langsam kam er sich vor wie der Fahrer des roten Plymouth Valiant in Steven Spielbergs erstem Thriller von 1971, „Das Duell“, in dem ein Truck einen Pkw jagt.

Das Duell

Vor ihm lag eine weitgezogene Kurve, und voraus fuhren zwei Fahrzeuge. Die beiden Pkw vor ihm fuhren so gemächlich, als lägen Hüte auf deren Ablage. Also war Rs. Kalkül, diese zu überholen, um danach zumindest ein bisschen Ruhe vor diesem Kamikazekurier zu haben. Nun sieht sich R. nicht gerade als Rennpilot, und abgesehen davon ist seine Maschine keins dieser neuen PS-Monster. Zum flotten Fortkommen reichen die 650 Kubikzentimeter Hubraum allerdings vollkommen aus. Dass es allerdings heute mit einem 200 PS-starken Lieferwagen gelingt, durchschnittliche Motorradfahrer in die Bredouille zu bringen, sollte zu denken geben. Also kam die Kiste immer näher, und auch nach vorn wurde die Luft dünn. Als R. dann den Überholvorgang einleitete, kam zum vollständigen Übel noch Gegenverkehr dazu. Mit hauchzarten Abständen zu Vorder- wie Gegenspurfahrer schaffte er es, den penetranten Kurier abzuhängen.

Wenn der Preis schlicht das Leben ist

Aber um welchen Preis? Sicher, es war nichts passiert, aber seitdem hat Herr R. ganz allgemein seine Einstellung zum Risiko geändert. Und das hat er auf sämtliche Lebensbereiche, die mit anderen Menschen zu tun haben, übertragen. Auch auf seine Geschäftsführung und Geldpolitik. R. meint, dass er zwar niemals den großen Thrill verspürt hat, wenn es brenzlig wurde, aber immerhin einen gewissen Reiz bei riskanten Finanzaktionen. Er hat das Ganze damals mit dem, Begriff „Problembewusstsein“ in Verbindung gebracht und sich riskant verhalten, wenn es das Problem „legitimierte“. Aber seine Motorradfahrt habe ihn gelehrt, dass sich Problemlagen verschieben, wenn man eine andere Perspektive einnehme. Und heute sagt sich R., dass es sicher besser gewesen wäre, rechts anzuhalten, durchzuatmen und den Kurier einfach ins Off fahren zu lassen. Mit der Folge, dass er ruhiger gefahren wäre und die Landschaft hätte genießen können. Denn beruhigen konnte sich R. nach dem Stunt eine ganze Weile nicht.