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Binsenweiheit selbstverständlich

Bier ist Bier und Schnaps ist Schnaps. Das bekam ich als junger Student von den Festangestellten zu hören, wenn ich mal wieder privates ins Berufsleben einfließen lies. Diese Festangestellten waren Mitarbeiter in Poststellen, Kundenbtreuungsabteilungen, Registraturen und Logistikzentren. Eben da, wo ich als studentische Aushilfe jobben durfte. Natürlich akzeptierte ich die Trennung zwischen Leben und Job nicht, denn das Private war öffentlich und politisch sowieso. Davon war ich fest überzeugt. Und so fragte ich mich, wie die Mitarbeiter ihre teilweise stupide anmutenden Tätigkeiten, die sich scheinbar jeglichem höheren Sinn verwehrten, ausüben konnten ohne dabei in Lethargie, Trübsinn, Alkoholismus oder, so würden wir heute sagen, einen Burn Out zu fallen.

Die Jahre gingen ins Land und aus dem Studenten wurde ein Jobber, ein Fotograf, ein Webdesigner, ein ITler, ein Taxifahrer, ein Wissensmanager, ein Berater und Coach. Als Selbstständiger hatte ich zwangsläufig die Verschmelzung von Leben und Beruf. Da gab es nichts zu deuteln.

Mit der Zeit kamen immer mehr Kunden auf mich zu, die ihrerseits Überlegungen anstellten, wie sie privates mit beruflichem besser ausbalancieren können. Wie sie mehr Sinn in ihrer Arbeit stiften und finden können. Wie sie es anstellen können, ein bewußtes und erfülltes Leben zu führen.

Gierige Organisationen

Ebenso nehmen seit einigen Jahren die Ansprüche der Organisationen an ihren Mitarbeitern zu. Es reicht nicht mehr, seinen Job anständig zu erledigen, pflichtbewusst und treu. Der Mitarbeiter von heute soll seinen Purpose wissen, aufsagen und einbringen können, agiler werden und sich coachen lassen, wenn es mal klemmt. Teamplayer soll er sein und eigenständig. Sich selbst führen und Verantwortung übernehmen. Dabei steht über allem, dass er selbstorganisiert zu sein hat und gleichzeitig seinen Platz in der flachen oder weniger flachen Hierarchie einzunehmen weiß. Er soll sich als ganzer Mensch ausschließlich der Arbeit widmen und der Organisation dienen. Denn, so tönen einige New Work Apologeten, die Arbeit ist das Leben. Manchmal denke ich, wie gierig und übergriffig können Organisation noch sein?[1]

Um dazu einen Eindruck zu bekommen, lese ich gerne die Ausspeicherungen der Zukunftsforscher. Da wird mir angst und bange. Einer fragt nach wieviel Mensch die Zukunft verträgt, ein anderer fordert die Sinnwirtschaft[2]. Gemein ist beiden, dass der Mitarbeiter sich ganzheitlich in die Organisation einspeisen soll, denn die Organisation ist das sinnstiftende Kontinuum für den Menschen. Sie wird für die Work-Life-Balance sorgen (müssen … oder es lassen), sie verordnet ihm Coaching, sie prüft, ob er nicht zu viel krank ist, sie schickt ihn in Bootcamps, um Teamfähigkeit zu trainieren, sie bringt ihm agiles Arbeiten bei, zumindest das, was sie dafür hält. Kurz: New Work[3] soll das neue New Normal sein. Dahinter verbirgt sich eine lange Liste an Zuschreibungen, Ideologien, Einschreibungen und Zurichtungen. In keinem Fall geht es darum, Arbeit und Leben sauber voneinander zu trennen.

Scheinwelten

In den digitalen Foren und Plattformen quellen die Beitragsfeeds nur so über von gutgemeinten Ratschlägen, wie der Leser und die Leserin sich noch besser formt und optimiert, um ein noch besserer Teil dieser heiteren Arbeitswelt zu werden. Und wer es wirklich wirklich wissen will, der solle besser gleich seinen Job kündigen (möglichst laut) und ein Startup gründen, Entrepreneur werden oder als digitaler (selbstredend weißer und gut ausgebildeter) Nomade von dort aus arbeiten, wo andere Urlaub machen.

Es gibt, wenn man diesen Autoren und Autorinnen glauben darf, schon lange nur noch ein Leben: das Arbeitsleben. Freizeit dient der Regenration, ergo der Arbeit. Wo immer der neue New Work Hero sich aufhält, wird das, was er tut zur Arbeit. Geflissentlich verdrängt er, dass einige Arbeit unbezahlt ist (Datenerzeugung und -lieferung frei Haus an Google, Amazon & Co.) und andere ihn teuer zu stehen kommt (der nächste Urlaub).

Lernen von den Alten

Von den heute alten Männern und Frauen, denen ich in jungen Jahren in meinen Aushilfsjobs begegnen durfte, und die mir den Spruch von Bier ist Bier und Schnaps ist Schnaps nahebrachten, lernte ich, wie gut es für Leib und Seele ist, wenn Arbeit Arbeit und Leben Leben ist. Weil sie gerade nicht den Sinn im Job, sondern in ihrem Leben fanden, wirkten sie ausgeglichen, freundlich, kollegial, ohne darum ein großes Geschrei zu machen. Ausserhalb ihrer Jobs waren sie Hundezüchter, Gärtner, Weltenbummler, Literaten, sozial engagierte und am Gemeinwohl interessierte Mitmenschen.

Sicherlich war auch damals nicht alles Gold, was glänzt. Auch die Alten hatten Probleme, als sie jung waren. Und dennoch plädiere ich für eine deutliche Entflechtung von Beruf und Leben, denn die einzige Alternative, die uns heute angedient wird, dass das Leben die Arbeit und das dort der Sinn im Leben zu finden sei, ist eine Chimäre.

Existentielles Coaching

In meinen Coaching gehts es sehr oft um das Existentielle. Was zeigt sich mir? Was verstehe ich? Was ist das Wichtige? Wie hängen die Dinge zusammen? Das sind Fragen, mit denen meine Kunden ins Coaching kommen. Im Coaching umkreisen wir diese Fragen und der Kunde findet seine Antworten auf diese und weitere Fragen, die er an sich und sein Leben stellt. Es wäre verfroren, die Fragen ausschließlich auf die jeweilige Rolle in seinem Beruf zu verengen! Coaching dient dem Kunden dazu, seinen Handlungsraum zu erweitern und so die Zahl der Handlungsmöglichkeiten zu erhöhen. Existentielles Coaching[4] steht im scharfen Kontrast zu den vielzähligen, schnell konsumierbaren Junkcoachings[5], die auf allen Internetplattformen wie Pilze aus dem Boden sprießen.

Ein Job kann Sinn stiftend sein. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass aller Sinn ausschließlich im Job zu finden ist.

Von Mensch zu Mensch

Ich gehe davon aus, dass die Junkcoaching Angebote in naher Zukunft durch intelligente digitale Konditionierungsprogramme und Plattformen ersetzt werden. Wozu braucht es Menschen, die ihre Muster und Du-Sollst-Botschaften abspulen, wenn das Konditionierungsprogramme smarter und intelligenter werden leisten können? Schon heute etablieren sich immer mehr Anbieter in diesem Segment. Oft in Kombination mit einem Tool, wie zum Beispiel Klarheit mit einem Planer.[6] Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die analogen Angebote durch smarte Konditionierungsprogramme ergänzt, erweitert oder komplett abgelöst werden.

Auch die Prognose[7], dass wir in Zukunft jeweils mehr als einen Coach haben werden, scheint das Berufsbild Coach abzusichern. Jedoch gebe ich zu bedenken, dass diese Art von Coaching durch KI und smarte Konditionierungsprogramme abgelöst werden wird.

Der Coach wird in Politik und Wirtschaft immer als Berater und Freund gefragt sein.

Coaching, wie ich es verstehe, hat Zukunft, stützt es sich doch auf die Jahrtausende alte Tradition des Lehrens von Führung und Beraten von Entscheidungsträgern. Frei von Anhaftungen und Ideologien kann mein Coaching Angebot durch keine Software ersetzt werden, da heute und in der Zukunft Freundlichkeit, Empathie, Nähe sowie gleichzeitig Distanz, Moral und Ethik, Macht und Strategie, Philosophie und Soziologie nur im Dialog, von Mensch zu Mensch entstehen kann.[8]

Lesetipp

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Anmerkungen

Anmerkungen
1 Sehr lesenwert in diesem Kontext: Matthiesen/Muster/Laudenbach, Die Humanisierung der Organisation, München, 2022
2 https://www.luebbe.de/quadriga/buecher/gesellschaft/sinnmaximierung/id_9414678
3 Hier setzen bitte alle Buzzwords und Subbuzzwords ein, die ihnen auf den Internetplattformen und den einschlägigen Konferenzen und Barcamps um die Ohren fliegen.
4 https://www.rauen.de/coaching-report/rezension/existentielles-coaching-theoretische-orientierung-grundlagen-und-praxis-fuer-coaching-organisationsberatung-und-supervision.html
5 Mehr dazu in meinem Buch Anweisungen für den Coach
6 https://www.halloklarheit.de
7 https://www.medimops.de/sven-gabor-janszky-2030-wie-viel-mensch-vertraegt-die-zukunft-taschenbuch-M03947590040.html
8 Mehr zu meinem Coachingverständnis finden Sie in Anweisungen für den Coach, Norderstedt, 2022