9 Minuten Lesezeit

Neulich auf einer Business Plattform

Ich liebe Trollplattformen[1]. Auch, weil es für jedes Bedürfnis eine besondere Ausprägung, also eine Themen-Trollplattform gibt. Ganz besonders hat es mir Linkedin angetan. Was kann ich da nicht alles über New Work erfahren! Und über die Mitglieder der Plattform, die die schöne neue Arbeitswelt aus ihrer jeweiligen subjektiven Brille bewerben.

Vor kurzem spülte mir der Microsoft-Algorthmus, der Linkedin antreibt, ein selbstgemaltes Flipchart-Plakat eines Nutzers in die Timeline. „Nicht das Problem bereitet uns immer Schwierigkeiten, sondern in manchen Situationen liegt es an unserer Einstellung und an unserer Sichtweise“ hatte der Nutzer seinem Bildmotiv mitgegeben. Wohl auch, um für mögliche Kommentare anderer Nutzer, ausweichend Antworten zu können. Denn das Flipchart-Plakat, um das es geht, war in seiner Aussage einfacher, vielleicht provokativer:

Montag ist nicht das Problem

Der Job ist nicht das Problem

Das Wetter ist nicht das Problem

Das Teams ist nicht das Problem

Das Mindset ist das Problem!

Den Kommentaren konnte ich einige Kritik an diesem Beitrag entnehmen. Entscheidend für mich war in einem der Kommentare der Begriff toxische Positivität. Dieser war mir in einem anderen Kontext auf Instagram begegnet. Dort setzt sich eine Nutzerin mit dem Begriff der toxischen Positivität im Zusammenhang der Junkcoachingszene[2] bzw. Junkcoachinganbieter auseinander. Junkcoaches verkaufen ihre Mantras mit dem ausgesprochenen, teilweise unausgesprochenen, Mantra der bedingungslosen Positivität.

Toxisches Mindset trifft toxisches Coaching

Besagte Nutzerin [3] hat ihre Erfahrungen aus dem Inneren einer Junkcoaching-Fabrik in einem Bild aufbereitet, dass den Titel Die Pyramide des Grauens – New Age Spiritualität – Edition trägt. Meine Abwandlung der Pyramide in Toxisches Coaching greift auf das Original zurück, mit ein paar thematischen Anpassungen. Denn ich beobachte, dass die fünf Ebenen der Pyramide nicht nur auf Junkcoaches (in esoterischer Ausprägung) zutreffen, sondern weiter zu fassen ist. Deswegen unter anderem der Hinweis auf das weite Feld (oft systemisch begründeter) toxischer Positivität.

Was passiert, wenn das Mantra der toxischen Positivität auf die Angebote des toxischen Coaching trifft, mag ich mir nicht ausmalen. Zu hoffen bleibt, dass der Boden, der von den einen wie den anderen beackert wird, unfruchtbar bleibt.

Toxisches Coaching
Toxisches Coaching

Highway to Hell

Mir hat’s auch geholfen.
Da gibt es den Berater, der nach einer famosen Pleite wie Phönix aus der Asche aufersteht und kundtut, dass Scheitern zum Leben dazu gehört[4]. Oder die Coachin, die von ihrer großen Liebe sitzengelassen wurde, sich wieder aufrappelte, und das erlebte in Buchform veröffentlichte. Und die vielen Coaches, die mal Führungskraft waren und deswegen wissen, wie der Hase läuft. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie ein Initialerlebnis hatten, sich selbst heilten (manche mit, andere ohne Unterstützung) und nun alle, denen es ähnlich geht, an ihrer Kraft genesen sollen. Und weil ein richtiger Coach nur einer ist, der eine eigene Methode erfunden hat, haben wir mittlerweile eine unüberschaubare Vielzahl an erfolgversprechenden Methoden.

Heilung psychischer Krankheiten / Heilung von Trauma und des Inneren Kindes
Vielleicht speist sich aus der Haltung  Mir hat’s auch geholfen ein gewisser Größenwahn, der Coaches dazu verleitet in Feldern zu arbeiten, denen sie tunlichst fernbleiben sollten. Vielleicht wirken die Handbücher zum Inneren Kind[5], die viele Coaches lesen, ansteckend und verlockend. Für die Arbeit am Selbst alle mal. Doch um Wirkung zu entfalten, gehört diese Arbeit in eine Psychotherapie eingebettet und sollte in einem professionellen Umfeld von einem ausgebildeten Therapeuten erfolgen.

Coaches sind keine Psychiater und keine Psychotherapeuten

Da immer mehr Coaches therapeutische Ausbildungen vorweisen können, verschwimmt zunehmend die Grenze zwischen Therapie und Coaching. Zum Leidwesen der Ratsuchenden. Zum Wohle vieler Junkcoaches.

Fülle ist ein Geburtsrecht, oder: Du kannst alles haben, was du willst
Das ist schön. Und es blendet politische und soziale und kulturelle Faktoren, Bedingungen und Umstände, die man nicht selbst beeinflussen kann, komplett aus.

Das Universum liefert dir das, was du aussendest
Gewissermaßen sind wir alle mit diesem Glaubenssatz groß geworden. Sicherlich kennen viele die deutsche Variante wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Die Buddhisten unter den Leserinnen und Lesern wissen von Karma und der Wiedergeburt zu berichten. Kurz: Das Fundament des toxischen Coachings ist, wie der Rest der Pyramide, ein Allgemeinplatz. Wunderbar dazu geeignet, seine persönlichen Überzeugungen und Ansichten in sein Coachingkonzept einzuflechten. Dieser Glaubenssatz ist zudem die Begründung des weiten Feld der toxischen Positivität. In dem Coaches diese antriggern, können sie ihr toxisches Coachingangebot perfekt als Heilungsversprechen anbieten.

Lesen wir die Pyramide von unten nach oben, ergeben sich Coachingangebote, die sich so, oder so ähnlich lesen:

Weil Du noch nicht perfekt bis (Dein bestes Leben lebst / Dein bestes Selbst bist), es Dir aber als Geburtsrecht zusteht, jedoch ein Trauma Dich von Deinem besten Selbst fern hält und die Aussöhnung mit Deinem Inneren Kind verunmöglicht, biete ich Dir mein XY-Coaching an, denn ich war in der selben Lebensfalle / den selben Lebensumständen gefangen und konnte mich daraus befreien.

Eine Frage der Qualität

Ob spiritueller Coach, Businesscoach oder Mitarbeiter und Mensch, wir leben in einer Gesellschaft, in der zu jeder ausgeübten Tätigkeit ein Begründungshintergrund gehört, der betont, warum wir eine Sache besonders gut können. Vielleicht lieben wir deswegen in unserer Kultur Zertifikate, Titel und Auszeichnungen. Und vielleicht fühlen sich Coaches, sei es mit, sei es ohne Weiterbildungshorizont, besonders genötigt, ihre Talente und Kompetenzen hervorzuheben. Das ist Spekulation, sicherlich. Und der Kunde hat ein Anrecht zu erfahren, was den jeweiligen Coach befähigt, Menschen zu beraten und durch Lebenssituationen zu begleiten.

Abhilfe – weit gefehlt

Im Organisationskontext haben sich Berufsstandards etabliert. Einer der einfachsten ist der, dass der Coach einem Verband angehört und zertifiziert ist. Dafür gibt es Verbände. Wir wissen, dass auch in Verbänden nicht alles Gold ist, was glänzt. Wer hat nicht selbst Trainer in Workshops erlebt, die sich in kurzen Coaching Attitüden versteigen? Wer hat nicht selbst schon Moderatoren erlebt, die Meinungen pushen? Selbst die Verbandszertifizierung schützt vor Überraschungen nicht.

Und dennoch

Die Verbände tragen zur Qualität der Ausbildungsangebote für Coaches bei, durch Zertifizierungen, Qualitätskriterien und Ethikräte. Einige Verbände veröffentlichen ihre Ethik-Grundsätze auf ihren Homepages. So kann jeder Coach, ob er in einem Verband ist oder nicht, sich an einer oder mehreren Ethik-Richtlinien orientieren. Das eröffnet dem Kunden die Möglichkeit, dem auserwählten Coach auf den Zahn zu fühlen: Hat der Coach eine Ethik-Richtlinie, oder eben keine? Wonach handelt er? Was ist sein Coachingansatz und sein Coachingverständnis? Was ist sein Menschenbild? Bildet er sich weiter? Fragen, die in den Ethik-Richtlinien der Verbände beantwortet werden.

Coachingverständnis, selbstverständlich!

Ich habe mein Coachingverständnis in mittlerweile zwei Büchern niedergeschrieben. Das dritte ist in Arbeit und wird noch in 2022 veröffentlicht.
Eine Kurzfassung meiner Ethik-Grundsätze finden sie auf der Seite Ethik.

Anweisungen für den Coach

Die Bibel für den Coach

In diesem Standardwerk beschreibt Sascha Büttner die Grundlagen und Grundprinzipien des guten Coachings.
Anweisungen für den Coach ist als Handapparat zu verstehen, der dem Coach in der Beratung von Menschen als Leitfaden dienen soll.

Anweisungen für den Coach
Hardcover
276 Seiten
ISBN-13: 9783756226559
EAN: 9783756863914
Verlag: Books on Demand
Erscheinungsdatum: 08.08.2022
Sprache: Deutsch

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Coaching

Notizen.Gespräche.Reflexionen
Ein Handbuch für Coaches und Führungskräfte.

Coaching
Notizen.Gespräche.Reflexionen
Ein Handbuch für Coaches und Führungskräfte
EAN: 9783744869089
ISBN: 3744869083
Paperback
Februar 2018 – 328 Seiten

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Nachtrag: Es wäre so lustig, wenn es nicht so traurig wäre

Auf Instagram bescheren mir die Junkcoaches heitere Momente. So tanz eine Coachin gerne selbstvergessen und etwas staksig vor der Kamera, eine andere erzählt ihren Mumpitz mit nassen Haaren auf dem Weg zum nächsten tollen Teamevent. Ein anderer mit Glatzkopf und Brille denkt beim Gehen über die Ramblas laut vor sich hin. Wiederum ein anderer postiert sich mit seinem Flipchart am Rande eines Ackers und bemüht sich besonders motivierend zu argumentieren. Früher, liebe Leserinnen und Leser, früher, also kurz vor dem ersten Hoch der Web 2.0 Blase, haben wir darüber geschmunzelt (oder auch lauthals gelacht). Wir hätten den Protagonisten einen Sprung in der Schüssel attestiert. Vielleicht hätten wir sie auch für mutig befunden und als Alleinunterhalter auf irgendein Indiependent-Festival eingeladen. Das wäre es dann auch gewesen. Wenn nicht, konnte man sie als Trolle in den Foren und frühen Plattformen identifizieren und vom Hof jagen. Wenn man den Schlüssel hatte.

Dann aber hatten wir nicht mehr die Schlüssel (weil die heute großen Plattformbetreiber das Spielfeld übernommen haben) und das Elend der Aufmerksamkeitsökonomie trat seinen Siegeszug an. Befeuert von Agenturen und Contentcreatoren (manche sagen dazu auch Trollfabriken) drehen von Big Boss bis einsamer Solofahrer alle frei auf den Trollplattformen. Immerhin sind dort viele um eine heitere neue Arbeitswelt bemüht.
Und ja, dass muss ich an dieser Stelle betonen, auch ich trolle hier und da herum. Mal like ich einen Beitrag, andere teile ich gar in meiner Timeline und wenn es mich juckt und ich nicht sofort die Finger von der Tastatur nehme, setze ich einen Kommentar ab. Und eigene Beiträge poste ich auch, ich will ja Aufmerksamkeit.

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Anmerkungen

Anmerkungen
1 Siehe dazu auch Byung-Chul Han: Infokratie, Matthes Seitz, 2021
2 Siehe dazu auch Anweisungen für den Coach
3 Charlotte Raven, Webseite: http://www.charlotteraven.de
4 Scheitern ist eine Banalität. Dennoch spuckt mir Google einige Millionen Treffer aus und auch die Wikipedia spart nicht mit einem Eintrag.
5 Hier sind vor allem Erika J. Chopich/Margaret Paul und Thích Nhất Hạnh zu nennen