Neulich traf ich Herrn U., einen Kollegen aus der Coaching-Branche, in meinem Lieblingscafé. Wir kamen schnell ins Gespräch, und ehe wir uns versahen, breiteten sich die Krisen unserer Zeit vor uns aus. Krieg. Klima. Rechts. Links. Zuviel. Zuwenig. Mehr oder weniger.
Wir umkreisten die Themen, ohne sie wirklich zu vertiefen. Doch als Herr U. in Abwertung und Ausgrenzung abdriftete, entschied ich mich, das Gespräch zu beenden.
Gagaland, wo mensch hinschaut
Herr U. meinte, wir lebten in einem „Gagaland“. Politiker, Wirtschaft und Parteien würden unser schönes Land ruinieren.
Unser Land, ein Land, in dem Milch und Honig fließen könnte. Könnte! Stattdessen, so Herr U., würden wir von Menschen regiert, die unfähig seien und nur auf ihr Eigenwohl bedacht.
Ob so viel Hass, Wut, Reflex und Widersinn geriet ich ins Grübeln. Ich fragte mich, warum Herr U., ein erfahrener Coach, mit so viel Wut argumentierte. Meine Versuche, den Dialog zu öffnen, versandeten in pro-und-contra Argumentationen.
Reflexion, selbst
Eine Woche später wanderte ich mit meinem Kollegen F. im Odenwald. Am frühen Vormittag brachen wir auf,entschlossen, den Tag dem Frühlingsbeginn und unseren Gedanken zu widmen. Wir hatten uns bewusst freigenommen, um die Natur zu genießen und über das nachzudenken, was uns beim Wandern in den Sinn kommen würde. Nachdem wir den Melibokus erklommen hatten und eine kurze Verschnaufpause einlegten, lenkte sich unser Gespräch wie von selbst auf das Thema Reflexion.
Reflexion und Coaching – und die anspruchsvolle Aufgabe des Coaches, sich selbst und seine Rolle in der Gesellschaft und im Beruf kontinuierlich zu hinterfragen. Selbstreflexion.
Selbstreflexion hilft, Rollen und tradierte Muster zu hinterfragen. Das wissen wir Coaches. Eigentlich. Und doch gibt es da draußen, auf den Plattformen und Panels, Bühnen und in den Debattierklubs und Talkshows, eine unüberschaubare Anzahl von Coaches, die Hass und Stigmatisierung predigen. Sie schränken ein, polarisieren, verdammen das Fremde und verbannen die Zukunft. Sie verlieren sich in binären Monologen. Sie sind gegen alles: gegen Frieden, gegen Gendern, gegen Postkolonialismus, gegen Feminismus und für den Markt und das Recht des Stärkeren. Sie propagieren Phantombesitz an Leib und Frau, an Leben, Staat, Nation und Sachwerten.
Der soziale und gesellschaftliche Wert von Coaching
Die soziale und gesellschaftliche Relevanz von Coaching betrachte ich als unverzichtbar. In diesem Zusammenhang zitiere ich gerne Brechts Gedicht «An die Nachgeborenen», das ich als direkten Auftrag verstehe, die Welt freundlicher zu gestalten. Ein weiterer bedeutender Impulsgeber und Vorbild für mich ist Bernie Glassman, der einen engagierten Buddhismus lebte und den Orden der Zen-Peacemaker gründete. Gemeinsam mit anderen baute er in New York die Greystone Bakery auf und demonstrierte eindrucksvoll, was soziales Unternehmertum bedeutet.
Die Idee der Bleibefreiheit, die Eva von Redecker formuliert, fasziniert mich ebenso wie der Begriff von Heim-at, den mir die Benediktinerin Sr. Maria Magdalena Hörter OSB einst so eindrücklich vermittelte: Heim-at ist dort, wo ich mich sicher niederlassen kann. Seit ich Robin Wall Kimmerers Buch Das Sammeln von Moos gelesen habe, gehe ich mit offenen Augen durch die Welt. Von Martin Buber habe ich gelernt, dass der Mensch am Du zum Ich wird. Mein Großvater, ein Industrieller, Überlebender von Buchenwald und Pazifist aus tiefster Überzeugung, lehrte mich, für den Frieden einzutreten. Sharon Dodua Otoo spricht mir aus der Seele, wenn sie sagt, dass sie explizit in der Rolle einer Lernenden und Fragenden ist. Was, frage ich mich, frage ich Euch, ist ein Coach anderes? Ist er nicht zuallererst Lernender und Fragender?
Coaches tragen eine gewichtige soziale Verantwortung und können eine bedeutende Rolle in unserer Gesellschaft spielen. Sie vergessen nie, ihre Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Ob in sozialen Projekten, in der Nachbarschaft, in der Gemeinde oder innerhalb der Familie – Coaches sind als Friedensstifter, Versöhner und Lebensberater für jedermann ansprechbar und stets bereit, zu helfen. Ich wünsche mir von Herzen, dass alle diese Haltung teilen würden.
Literatur
- Sascha Büttner, Anweisungen für den Coach, BoD
- Sharon Dodua Otoo, Herr Gröttrup setzt sich hin, s. Fischer
- May Ayim, blues in schwarz weiss & nachtgesang, Unrast
- Eva von Redecker, Bleibefreiheit, S. Fischer
- Bernard Glassman, Anweisungen für den Koch, Lebensentwurf eines Zen-Meisters, Edition Steinrich
- https://www.dbvc.de/standards-fuer/coaching-kompendium